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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Noth auf sein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter-
stützte. Nach Vollendung seiner Studienzeit wurde er
practischer Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen-
kuren, die er machte, genügte er seinem innern Drange,
zum Heile der Menschen etwas beizutragen. Sonst aber
hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die
Stelle eines Professors der Kameralwissenschaften zu Mar-
burg. Auch hier indeß war es mehr seine schriftstellerische
als seine academische Thätigkeit, welche mit ruhmvollem
Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten
herrschende Freiheitsgeist und religiöse Scepticismus war
natürlich nicht die Denkweise, welche sie zu Stilling hätte
hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er
war einmal der Gegenstand roher Ausgelassenheit der
Studenten. Da war Stilling im größten Zwiespalt mit
sich: er sah, daß er als academischer Lehrer keinen Segen
stiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geistes-
kraft in sich, Großes zu wirken und zu schaffen. Da endlich
in seinem 63sten Jahre wurde Stilling der ihm durch die
vorherrschend religiöse Richtung seiner Natur angewiesenen,
von seiner Jugend an ihm immer dunkel vorschwebenden
Bestimmung, im Großen für die Sache des Christenthums
zu wirken, durch die Gnade des Kurfürsten von Baden
geschenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von
1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienst-
leistung zu verlangen, so daß Stilling sich in voller Muße
seiner schriftstellerischen Thätigkeit widmen konnte. In
Heidelberg lebte er bis aus Ende seines Lebens, das am
2. April 1817 erfolgte.

Schwache und bedeutungslose Individuen lassen sich in
Charakter und in ihrem Handeln durch die Umstände
bestimmen; denn sie haben keine Persönlichkeit, welche
sich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und
schöpferische Naturen, denen eine Rolle in der Geschichte
der Menschheit bestimmt ist, haben dieses ihr zukünftiges
Werk schon frühe als dunkle Ahnung in sich, und je klarer
sie es in ihr Selbstbewußtseyn erheben, desto unwider-
stehlicher bahnen sie sich durch alle Hindernisse, die ihnen

Noth auf ſein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter-
ſtützte. Nach Vollendung ſeiner Studienzeit wurde er
practiſcher Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen-
kuren, die er machte, genügte er ſeinem innern Drange,
zum Heile der Menſchen etwas beizutragen. Sonſt aber
hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die
Stelle eines Profeſſors der Kameralwiſſenſchaften zu Mar-
burg. Auch hier indeß war es mehr ſeine ſchriftſtelleriſche
als ſeine academiſche Thätigkeit, welche mit ruhmvollem
Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten
herrſchende Freiheitsgeiſt und religiöſe Scepticismus war
natürlich nicht die Denkweiſe, welche ſie zu Stilling hätte
hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er
war einmal der Gegenſtand roher Ausgelaſſenheit der
Studenten. Da war Stilling im größten Zwieſpalt mit
ſich: er ſah, daß er als academiſcher Lehrer keinen Segen
ſtiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geiſtes-
kraft in ſich, Großes zu wirken und zu ſchaffen. Da endlich
in ſeinem 63ſten Jahre wurde Stilling der ihm durch die
vorherrſchend religiöſe Richtung ſeiner Natur angewieſenen,
von ſeiner Jugend an ihm immer dunkel vorſchwebenden
Beſtimmung, im Großen für die Sache des Chriſtenthums
zu wirken, durch die Gnade des Kurfürſten von Baden
geſchenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von
1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienſt-
leiſtung zu verlangen, ſo daß Stilling ſich in voller Muße
ſeiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit widmen konnte. In
Heidelberg lebte er bis aus Ende ſeines Lebens, das am
2. April 1817 erfolgte.

Schwache und bedeutungsloſe Individuen laſſen ſich in
Charakter und in ihrem Handeln durch die Umſtände
beſtimmen; denn ſie haben keine Perſönlichkeit, welche
ſich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und
ſchöpferiſche Naturen, denen eine Rolle in der Geſchichte
der Menſchheit beſtimmt iſt, haben dieſes ihr zukünftiges
Werk ſchon frühe als dunkle Ahnung in ſich, und je klarer
ſie es in ihr Selbſtbewußtſeyn erheben, deſto unwider-
ſtehlicher bahnen ſie ſich durch alle Hinderniſſe, die ihnen

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[10/0018] Noth auf ſein Gebet hin eine Freunbeshand, die ihn unter- ſtützte. Nach Vollendung ſeiner Studienzeit wurde er practiſcher Arzt, und durch die vielen glücklichen Augen- kuren, die er machte, genügte er ſeinem innern Drange, zum Heile der Menſchen etwas beizutragen. Sonſt aber hatte er nicht viel Praxis, und er übernahm daher die Stelle eines Profeſſors der Kameralwiſſenſchaften zu Mar- burg. Auch hier indeß war es mehr ſeine ſchriftſtelleriſche als ſeine academiſche Thätigkeit, welche mit ruhmvollem Erfolge verknüpft war. Der unter den dortigen Studenten herrſchende Freiheitsgeiſt und religiöſe Scepticismus war natürlich nicht die Denkweiſe, welche ſie zu Stilling hätte hinziehen können. Er hatte oft bloß drei Zuhörer, ja er war einmal der Gegenſtand roher Ausgelaſſenheit der Studenten. Da war Stilling im größten Zwieſpalt mit ſich: er ſah, daß er als academiſcher Lehrer keinen Segen ſtiften könne, und doch fühlte er noch eine hohe Geiſtes- kraft in ſich, Großes zu wirken und zu ſchaffen. Da endlich in ſeinem 63ſten Jahre wurde Stilling der ihm durch die vorherrſchend religiöſe Richtung ſeiner Natur angewieſenen, von ſeiner Jugend an ihm immer dunkel vorſchwebenden Beſtimmung, im Großen für die Sache des Chriſtenthums zu wirken, durch die Gnade des Kurfürſten von Baden geſchenkt, welcher ihn zum Hofrath mit einem Gehalte von 1200 Gulden ernannte, ohne dagegen irgend eine Dienſt- leiſtung zu verlangen, ſo daß Stilling ſich in voller Muße ſeiner ſchriftſtelleriſchen Thätigkeit widmen konnte. In Heidelberg lebte er bis aus Ende ſeines Lebens, das am 2. April 1817 erfolgte. Schwache und bedeutungsloſe Individuen laſſen ſich in Charakter und in ihrem Handeln durch die Umſtände beſtimmen; denn ſie haben keine Perſönlichkeit, welche ſich in der Außenwelt verwirklichte: aber geniale und ſchöpferiſche Naturen, denen eine Rolle in der Geſchichte der Menſchheit beſtimmt iſt, haben dieſes ihr zukünftiges Werk ſchon frühe als dunkle Ahnung in ſich, und je klarer ſie es in ihr Selbſtbewußtſeyn erheben, deſto unwider- ſtehlicher bahnen ſie ſich durch alle Hinderniſſe, die ihnen

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/18>, abgerufen am 25.11.2024.