Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Euch abziehen müßten, und wenn Ihr der Stolz und das
Haupt eurer Familie würdet?

Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fühl ich freilich,
und das macht mir manche süße Stunde.

Recht, fuhr Goldmann fort: Aber ist es Euch auch ein
wahrer Ernst, ein rechtschaffenen Mann in der Welt zu seyn,
Gott und Menschen zu dienen, und also auch nach diesem Le-
ben selig zu werden? Da heuchelt nun nicht, sondern seyd auf-
richtig. Habt Ihr den fest entschlossenen Willen?

O ja! versetzte Stilling, das ist doch wohl der rechte
Polarstern, nach welchem sich endlich, nach vielem Hin- und
Hervagiren, mein Geist wie eine Magnetnadel richtet.

Nun, Vetter! erwiederte Goldmann: Nun will ich Euch
eure Nativität stellen, und die soll zuverläßig seyn. Hört mir
zu! "Gott verabscheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und
die Ehrbegierde, seinen Nebenmenschen, der oft besser ist, als
wir, tief unter sich zu sehen; das ist verdorbene menschliche
Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und
Verborgenen zum Wohl der Menschen arbeitet, und nicht
wünscht, offenbar zu seyn. Diesen zieht Er durch Seine gü-
tige Leitung, gegen seinen Willen endlich hervor und setzt ihn
hoch hinauf. Da sitzt dann der rechtschaffene Mann -- ohne
Gefahr, gestürzt zu werden, und weil ihn die Last der Erhö-
hung niederdrückt, so betrachtet er alle Menschen neben sich so
gut als sich selbst. Seht, Vetter! das ist wahre, edle, ver-
besserte oder wiedergeborene Menschennatur. Nun will ich
weissagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine
lange und schwere Führung alle eure eiteln Wünsche suchen
abzufegen; gelingt Ihm dieses, so werdet ihr endlich nach vie-
len schweren Proben ein glücklicher, großer Mann und ein
vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht
folgt, so werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch schwingen, und
einen entsetzlichen Fall thun, der allen Menschen, die es hören
werden, in die Ohren gellen wird!"

Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle diese Worte
waren, als wenn sie Goldmann in seiner Seele gelesen
hätte. Er fühlte diese Wahrheit im Grund seines Herzens

Euch abziehen muͤßten, und wenn Ihr der Stolz und das
Haupt eurer Familie wuͤrdet?

Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fuͤhl ich freilich,
und das macht mir manche ſuͤße Stunde.

Recht, fuhr Goldmann fort: Aber iſt es Euch auch ein
wahrer Ernſt, ein rechtſchaffenen Mann in der Welt zu ſeyn,
Gott und Menſchen zu dienen, und alſo auch nach dieſem Le-
ben ſelig zu werden? Da heuchelt nun nicht, ſondern ſeyd auf-
richtig. Habt Ihr den feſt entſchloſſenen Willen?

O ja! verſetzte Stilling, das iſt doch wohl der rechte
Polarſtern, nach welchem ſich endlich, nach vielem Hin- und
Hervagiren, mein Geiſt wie eine Magnetnadel richtet.

Nun, Vetter! erwiederte Goldmann: Nun will ich Euch
eure Nativitaͤt ſtellen, und die ſoll zuverlaͤßig ſeyn. Hoͤrt mir
zu! „Gott verabſcheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und
die Ehrbegierde, ſeinen Nebenmenſchen, der oft beſſer iſt, als
wir, tief unter ſich zu ſehen; das iſt verdorbene menſchliche
Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und
Verborgenen zum Wohl der Menſchen arbeitet, und nicht
wuͤnſcht, offenbar zu ſeyn. Dieſen zieht Er durch Seine guͤ-
tige Leitung, gegen ſeinen Willen endlich hervor und ſetzt ihn
hoch hinauf. Da ſitzt dann der rechtſchaffene Mann — ohne
Gefahr, geſtuͤrzt zu werden, und weil ihn die Laſt der Erhoͤ-
hung niederdruͤckt, ſo betrachtet er alle Menſchen neben ſich ſo
gut als ſich ſelbſt. Seht, Vetter! das iſt wahre, edle, ver-
beſſerte oder wiedergeborene Menſchennatur. Nun will ich
weiſſagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine
lange und ſchwere Fuͤhrung alle eure eiteln Wuͤnſche ſuchen
abzufegen; gelingt Ihm dieſes, ſo werdet ihr endlich nach vie-
len ſchweren Proben ein gluͤcklicher, großer Mann und ein
vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht
folgt, ſo werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch ſchwingen, und
einen entſetzlichen Fall thun, der allen Menſchen, die es hoͤren
werden, in die Ohren gellen wird!“

Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle dieſe Worte
waren, als wenn ſie Goldmann in ſeiner Seele geleſen
haͤtte. Er fuͤhlte dieſe Wahrheit im Grund ſeines Herzens

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0177" n="169"/>
Euch abziehen mu&#x0364;ßten, und wenn Ihr der Stolz und das<lb/>
Haupt eurer Familie wu&#x0364;rdet?</p><lb/>
            <p>Ja! antwortete <hi rendition="#g">Stilling</hi> treuherzig, das fu&#x0364;hl ich freilich,<lb/>
und das macht mir manche &#x017F;u&#x0364;ße Stunde.</p><lb/>
            <p>Recht, fuhr <hi rendition="#g">Goldmann</hi> fort: Aber i&#x017F;t es Euch auch ein<lb/>
wahrer Ern&#x017F;t, ein recht&#x017F;chaffenen Mann in der Welt zu &#x017F;eyn,<lb/>
Gott und Men&#x017F;chen zu dienen, und al&#x017F;o auch nach die&#x017F;em Le-<lb/>
ben &#x017F;elig zu werden? Da heuchelt nun nicht, &#x017F;ondern &#x017F;eyd auf-<lb/>
richtig. Habt Ihr den fe&#x017F;t ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Willen?</p><lb/>
            <p>O ja! ver&#x017F;etzte <hi rendition="#g">Stilling</hi>, das i&#x017F;t doch wohl der rechte<lb/>
Polar&#x017F;tern, nach welchem &#x017F;ich endlich, nach vielem Hin- und<lb/>
Hervagiren, mein Gei&#x017F;t wie eine Magnetnadel richtet.</p><lb/>
            <p>Nun, Vetter! erwiederte <hi rendition="#g">Goldmann</hi>: Nun will ich Euch<lb/>
eure Nativita&#x0364;t &#x017F;tellen, und die &#x017F;oll zuverla&#x0364;ßig &#x017F;eyn. Ho&#x0364;rt mir<lb/>
zu! &#x201E;Gott verab&#x017F;cheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und<lb/>
die Ehrbegierde, &#x017F;einen Nebenmen&#x017F;chen, der oft be&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t, als<lb/>
wir, tief unter &#x017F;ich zu &#x017F;ehen; das i&#x017F;t verdorbene men&#x017F;chliche<lb/>
Natur. Aber er liebt auch <hi rendition="#g">den</hi> Mann, der im Stillen und<lb/>
Verborgenen zum Wohl der Men&#x017F;chen arbeitet, und nicht<lb/>
wu&#x0364;n&#x017F;cht, offenbar zu &#x017F;eyn. Die&#x017F;en zieht Er durch Seine gu&#x0364;-<lb/>
tige Leitung, gegen &#x017F;einen Willen endlich hervor und &#x017F;etzt ihn<lb/>
hoch hinauf. Da &#x017F;itzt dann der recht&#x017F;chaffene Mann &#x2014; ohne<lb/>
Gefahr, ge&#x017F;tu&#x0364;rzt zu werden, und weil ihn die La&#x017F;t der Erho&#x0364;-<lb/>
hung niederdru&#x0364;ckt, &#x017F;o betrachtet er alle Men&#x017F;chen neben &#x017F;ich &#x017F;o<lb/>
gut als &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Seht, Vetter! das i&#x017F;t wahre, edle, ver-<lb/>
be&#x017F;&#x017F;erte oder wiedergeborene Men&#x017F;chennatur. Nun will ich<lb/>
wei&#x017F;&#x017F;agen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine<lb/>
lange und &#x017F;chwere Fu&#x0364;hrung alle eure eiteln Wu&#x0364;n&#x017F;che &#x017F;uchen<lb/>
abzufegen; gelingt Ihm die&#x017F;es, &#x017F;o werdet ihr endlich nach vie-<lb/>
len &#x017F;chweren Proben ein glu&#x0364;cklicher, großer Mann und ein<lb/>
vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht<lb/>
folgt, &#x017F;o werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch &#x017F;chwingen, und<lb/>
einen ent&#x017F;etzlichen Fall thun, der allen Men&#x017F;chen, die es ho&#x0364;ren<lb/>
werden, in die Ohren gellen wird!&#x201C;</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Stilling</hi> wußte nicht wie ihm ward, alle die&#x017F;e Worte<lb/>
waren, als wenn &#x017F;ie <hi rendition="#g">Goldmann</hi> in &#x017F;einer Seele gele&#x017F;en<lb/>
ha&#x0364;tte. Er fu&#x0364;hlte die&#x017F;e Wahrheit im Grund &#x017F;eines Herzens<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0177] Euch abziehen muͤßten, und wenn Ihr der Stolz und das Haupt eurer Familie wuͤrdet? Ja! antwortete Stilling treuherzig, das fuͤhl ich freilich, und das macht mir manche ſuͤße Stunde. Recht, fuhr Goldmann fort: Aber iſt es Euch auch ein wahrer Ernſt, ein rechtſchaffenen Mann in der Welt zu ſeyn, Gott und Menſchen zu dienen, und alſo auch nach dieſem Le- ben ſelig zu werden? Da heuchelt nun nicht, ſondern ſeyd auf- richtig. Habt Ihr den feſt entſchloſſenen Willen? O ja! verſetzte Stilling, das iſt doch wohl der rechte Polarſtern, nach welchem ſich endlich, nach vielem Hin- und Hervagiren, mein Geiſt wie eine Magnetnadel richtet. Nun, Vetter! erwiederte Goldmann: Nun will ich Euch eure Nativitaͤt ſtellen, und die ſoll zuverlaͤßig ſeyn. Hoͤrt mir zu! „Gott verabſcheut nichts mehr, als den eiteln Stolz und die Ehrbegierde, ſeinen Nebenmenſchen, der oft beſſer iſt, als wir, tief unter ſich zu ſehen; das iſt verdorbene menſchliche Natur. Aber er liebt auch den Mann, der im Stillen und Verborgenen zum Wohl der Menſchen arbeitet, und nicht wuͤnſcht, offenbar zu ſeyn. Dieſen zieht Er durch Seine guͤ- tige Leitung, gegen ſeinen Willen endlich hervor und ſetzt ihn hoch hinauf. Da ſitzt dann der rechtſchaffene Mann — ohne Gefahr, geſtuͤrzt zu werden, und weil ihn die Laſt der Erhoͤ- hung niederdruͤckt, ſo betrachtet er alle Menſchen neben ſich ſo gut als ſich ſelbſt. Seht, Vetter! das iſt wahre, edle, ver- beſſerte oder wiedergeborene Menſchennatur. Nun will ich weiſſagen, was Euch widerfahren wird: Gott wird durch eine lange und ſchwere Fuͤhrung alle eure eiteln Wuͤnſche ſuchen abzufegen; gelingt Ihm dieſes, ſo werdet ihr endlich nach vie- len ſchweren Proben ein gluͤcklicher, großer Mann und ein vortreffliches Werkzeug Gottes werden! Wenn Ihr aber nicht folgt, ſo werdet Ihr Euch vielleicht bald hoch ſchwingen, und einen entſetzlichen Fall thun, der allen Menſchen, die es hoͤren werden, in die Ohren gellen wird!“ Stilling wußte nicht wie ihm ward, alle dieſe Worte waren, als wenn ſie Goldmann in ſeiner Seele geleſen haͤtte. Er fuͤhlte dieſe Wahrheit im Grund ſeines Herzens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/177
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/177>, abgerufen am 22.11.2024.