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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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ein und ließ sich melden. Der Herr Goldmann kam die
Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil-
ling
! Willkommen in meinem Haus! Er führte ihn die Treppe
hinauf. Seine Liebste empfing ihn ebenfalls freundlich und
machte Anstalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam,
und die seinigen wiederum trocken wurden, hernach setzte man
sich zu Tisch. Während des Essens mußte Stilling seine
Geschichte erzählen; als das geschehen war, sagte Herr Gold-
mann
: Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart seyn,
das den Leuten mißfällt, sonst wär' es unmöglich, so unglück-
lich zu seyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige
Tage bei mir gewesen seyd, ich will's Euch dann sagen, und
Ihr müßt es suchen abzuändern. Stilling lächelte und ant-
wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir
meine Fehler sagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten
sitzt, und den will ich Ihnen aufknüpfen: Ich lebe nicht in
dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit
Zwang, und deßwegen ist auch kein Segen dabei.

Goldmann schüttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei!
wozu solltet Ihr geboren seyn? Ich glaube, Ihr habt Euch
durch euer Romanlesen unmögliche Dinge in den Kopf gesetzt.
Die Glücksfälle, welche die Phantasie der Dichter ihren Hel-
den andichtet, setzen sich in Kopf und Herz fest, und erwecken
einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veränderungen.

Stilling schwieg eine Weile, sah vor sich nieder; endlich
blickte er seinen Vetter durchdringend an und sagte mit Nach-
druck: Nein! bei den Romanen fühl' ich nur, mir ists, als
wenn mir alles selbst widerführe, was ich lese; aber ich habe
gar keine Lust, solche Schicksale zu erleben. Es ist was an-
ders, lieber Herr Vetter! ich habe Lust zu Wissenschaften, wenn
ich nur einen Beruf hätte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein
Brod erwerben könnte, so wäre mein Wunsch erfüllt.

Goldmann versetzte: Nun so untersucht einmal diesen
Trieb unparteiisch. Ist nicht Ruhm und Ehrbegierde damit
verknüpft? Habt Ihr nicht süße Vorstellungen davon, wenn
Ihr in einem schönen Kleid und herrschaftlichen Aufzug einher-
treten könntet? Wenn die Leute sich bücken und den Hut vor

ein und ließ ſich melden. Der Herr Goldmann kam die
Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil-
ling
! Willkommen in meinem Haus! Er fuͤhrte ihn die Treppe
hinauf. Seine Liebſte empfing ihn ebenfalls freundlich und
machte Anſtalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam,
und die ſeinigen wiederum trocken wurden, hernach ſetzte man
ſich zu Tiſch. Waͤhrend des Eſſens mußte Stilling ſeine
Geſchichte erzaͤhlen; als das geſchehen war, ſagte Herr Gold-
mann
: Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart ſeyn,
das den Leuten mißfaͤllt, ſonſt waͤr’ es unmoͤglich, ſo ungluͤck-
lich zu ſeyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige
Tage bei mir geweſen ſeyd, ich will’s Euch dann ſagen, und
Ihr muͤßt es ſuchen abzuaͤndern. Stilling laͤchelte und ant-
wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir
meine Fehler ſagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten
ſitzt, und den will ich Ihnen aufknuͤpfen: Ich lebe nicht in
dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit
Zwang, und deßwegen iſt auch kein Segen dabei.

Goldmann ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei!
wozu ſolltet Ihr geboren ſeyn? Ich glaube, Ihr habt Euch
durch euer Romanleſen unmoͤgliche Dinge in den Kopf geſetzt.
Die Gluͤcksfaͤlle, welche die Phantaſie der Dichter ihren Hel-
den andichtet, ſetzen ſich in Kopf und Herz feſt, und erwecken
einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veraͤnderungen.

Stilling ſchwieg eine Weile, ſah vor ſich nieder; endlich
blickte er ſeinen Vetter durchdringend an und ſagte mit Nach-
druck: Nein! bei den Romanen fuͤhl’ ich nur, mir iſts, als
wenn mir alles ſelbſt widerfuͤhre, was ich leſe; aber ich habe
gar keine Luſt, ſolche Schickſale zu erleben. Es iſt was an-
ders, lieber Herr Vetter! ich habe Luſt zu Wiſſenſchaften, wenn
ich nur einen Beruf haͤtte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein
Brod erwerben koͤnnte, ſo waͤre mein Wunſch erfuͤllt.

Goldmann verſetzte: Nun ſo unterſucht einmal dieſen
Trieb unparteiiſch. Iſt nicht Ruhm und Ehrbegierde damit
verknuͤpft? Habt Ihr nicht ſuͤße Vorſtellungen davon, wenn
Ihr in einem ſchoͤnen Kleid und herrſchaftlichen Aufzug einher-
treten koͤnntet? Wenn die Leute ſich buͤcken und den Hut vor

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[168/0176] ein und ließ ſich melden. Der Herr Goldmann kam die Treppe herabgelaufen und rief: Ei willkommen, Vetter Stil- ling! Willkommen in meinem Haus! Er fuͤhrte ihn die Treppe hinauf. Seine Liebſte empfing ihn ebenfalls freundlich und machte Anſtalten, daß er trockene Kleider an den Leib bekam, und die ſeinigen wiederum trocken wurden, hernach ſetzte man ſich zu Tiſch. Waͤhrend des Eſſens mußte Stilling ſeine Geſchichte erzaͤhlen; als das geſchehen war, ſagte Herr Gold- mann: Vetter! es muß doch etwas in eurer Lebensart ſeyn, das den Leuten mißfaͤllt, ſonſt waͤr’ es unmoͤglich, ſo ungluͤck- lich zu ſeyn. Ich werde es bald bemerken, wenn Ihr einige Tage bei mir geweſen ſeyd, ich will’s Euch dann ſagen, und Ihr muͤßt es ſuchen abzuaͤndern. Stilling laͤchelte und ant- wortete: Ich will mich freuen, Herr Vetter! wenn Sie mir meine Fehler ſagen, aber ich weiß ganz wohl, wo der Knoten ſitzt, und den will ich Ihnen aufknuͤpfen: Ich lebe nicht in dem Beruf, zu welchem ich geboren bin, ich thue alles mit Zwang, und deßwegen iſt auch kein Segen dabei. Goldmann ſchuͤttelte den Kopf und erwiederte: Ei! Ei! wozu ſolltet Ihr geboren ſeyn? Ich glaube, Ihr habt Euch durch euer Romanleſen unmoͤgliche Dinge in den Kopf geſetzt. Die Gluͤcksfaͤlle, welche die Phantaſie der Dichter ihren Hel- den andichtet, ſetzen ſich in Kopf und Herz feſt, und erwecken einen Hunger nach dergleichen wunderbaren Veraͤnderungen. Stilling ſchwieg eine Weile, ſah vor ſich nieder; endlich blickte er ſeinen Vetter durchdringend an und ſagte mit Nach- druck: Nein! bei den Romanen fuͤhl’ ich nur, mir iſts, als wenn mir alles ſelbſt widerfuͤhre, was ich leſe; aber ich habe gar keine Luſt, ſolche Schickſale zu erleben. Es iſt was an- ders, lieber Herr Vetter! ich habe Luſt zu Wiſſenſchaften, wenn ich nur einen Beruf haͤtte, in welchem ich mit Kopfarbeit mein Brod erwerben koͤnnte, ſo waͤre mein Wunſch erfuͤllt. Goldmann verſetzte: Nun ſo unterſucht einmal dieſen Trieb unparteiiſch. Iſt nicht Ruhm und Ehrbegierde damit verknuͤpft? Habt Ihr nicht ſuͤße Vorſtellungen davon, wenn Ihr in einem ſchoͤnen Kleid und herrſchaftlichen Aufzug einher- treten koͤnntet? Wenn die Leute ſich buͤcken und den Hut vor

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/176>, abgerufen am 24.11.2024.