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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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er so etwas Schauderhaftes und Melancholisches, er dachte
an die Vergänglichkeit aller Dinge; ihm war's beim Abschied
der schönen Natur, wie beim Abschied einer lieben Freundin;
allein ihn schreckte auch ein dunkles Ahnen, so, als wenn
man beim Mondschein an einem berüchtigten einsamen Orte
vorbeigeht, wo man Gespenster vermuthet. Er ging und kam
bei der Tante an. So wie er zur Thüre hereintrat, hüpfte
ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachläßigen Kleidern
entgegen, hüpfte ein paarmal um ihn herum, und sagte:

"Du bist mein lieber Knabe! du liebst mich aber nicht.
"Wart' du! sollst auch kein Blumensträuschen haben! --
So ein Sträuschen -- von Blumen, die an Felsen und
Klippen wachsen, -- so ein Feldkümmelsträuschen, das ist
für dich!"

Stilling erstarrte, er stand da und sagte kein Wort. Die
Tante sah ihn an und weinte, sie aber hüpfte und tanzte wie-
der fort, und sang:

Es graste ein Schäflein am Felsenstein,
Fand keine süße Weide,
Der Schäfer ging und pflegte nicht sein,
Das that dem Schäflein so leide.

Zwei Tage vorher war sie des Abends vernünftig und ge-
sund zu Bette gegangen, des Morgens aber war sie eben so
gewesen, wie sie Stilling nun fand, Niemand konnte die
Ursache errathen, woher dieses Unglück seinen Ursprung ge-
nommen, der Schulmeister selber wußte sie damals noch nicht,
bis er sie hernach aus ihren Reden erfahren hatte.

Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen lassen,
sondern sie ersuchte Stillingen, die Nacht da zu bleiben,
und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er
entschloß sich willig dazu und blieb da.

Des Abends, während des Essens, saß sie ganz still am
Tisch, aß aber sehr wenig. Stilling fragte sie: Sage
mir, Anna, schmeckt dir das Essen nicht? Sie antwortete:
Ich habe gegessen, aber es bekommt mir nicht gut, -- habe
Herzweh! Sie sah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeister

er ſo etwas Schauderhaftes und Melancholiſches, er dachte
an die Vergaͤnglichkeit aller Dinge; ihm war’s beim Abſchied
der ſchoͤnen Natur, wie beim Abſchied einer lieben Freundin;
allein ihn ſchreckte auch ein dunkles Ahnen, ſo, als wenn
man beim Mondſchein an einem beruͤchtigten einſamen Orte
vorbeigeht, wo man Geſpenſter vermuthet. Er ging und kam
bei der Tante an. So wie er zur Thuͤre hereintrat, huͤpfte
ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachlaͤßigen Kleidern
entgegen, huͤpfte ein paarmal um ihn herum, und ſagte:

„Du biſt mein lieber Knabe! du liebſt mich aber nicht.
„Wart’ du! ſollſt auch kein Blumenſtraͤuschen haben! —
So ein Straͤuschen — von Blumen, die an Felſen und
Klippen wachſen, — ſo ein Feldkuͤmmelſtraͤuschen, das iſt
fuͤr dich!“

Stilling erſtarrte, er ſtand da und ſagte kein Wort. Die
Tante ſah ihn an und weinte, ſie aber huͤpfte und tanzte wie-
der fort, und ſang:

Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein,
Fand keine ſuͤße Weide,
Der Schaͤfer ging und pflegte nicht ſein,
Das that dem Schaͤflein ſo leide.

Zwei Tage vorher war ſie des Abends vernuͤnftig und ge-
ſund zu Bette gegangen, des Morgens aber war ſie eben ſo
geweſen, wie ſie Stilling nun fand, Niemand konnte die
Urſache errathen, woher dieſes Ungluͤck ſeinen Urſprung ge-
nommen, der Schulmeiſter ſelber wußte ſie damals noch nicht,
bis er ſie hernach aus ihren Reden erfahren hatte.

Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen laſſen,
ſondern ſie erſuchte Stillingen, die Nacht da zu bleiben,
und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er
entſchloß ſich willig dazu und blieb da.

Des Abends, waͤhrend des Eſſens, ſaß ſie ganz ſtill am
Tiſch, aß aber ſehr wenig. Stilling fragte ſie: Sage
mir, Anna, ſchmeckt dir das Eſſen nicht? Sie antwortete:
Ich habe gegeſſen, aber es bekommt mir nicht gut, — habe
Herzweh! Sie ſah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeiſter

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[143/0151] er ſo etwas Schauderhaftes und Melancholiſches, er dachte an die Vergaͤnglichkeit aller Dinge; ihm war’s beim Abſchied der ſchoͤnen Natur, wie beim Abſchied einer lieben Freundin; allein ihn ſchreckte auch ein dunkles Ahnen, ſo, als wenn man beim Mondſchein an einem beruͤchtigten einſamen Orte vorbeigeht, wo man Geſpenſter vermuthet. Er ging und kam bei der Tante an. So wie er zur Thuͤre hereintrat, huͤpfte ihm Anna mit fliegenden Haaren und nachlaͤßigen Kleidern entgegen, huͤpfte ein paarmal um ihn herum, und ſagte: „Du biſt mein lieber Knabe! du liebſt mich aber nicht. „Wart’ du! ſollſt auch kein Blumenſtraͤuschen haben! — So ein Straͤuschen — von Blumen, die an Felſen und Klippen wachſen, — ſo ein Feldkuͤmmelſtraͤuschen, das iſt fuͤr dich!“ Stilling erſtarrte, er ſtand da und ſagte kein Wort. Die Tante ſah ihn an und weinte, ſie aber huͤpfte und tanzte wie- der fort, und ſang: Es graste ein Schaͤflein am Felſenſtein, Fand keine ſuͤße Weide, Der Schaͤfer ging und pflegte nicht ſein, Das that dem Schaͤflein ſo leide. Zwei Tage vorher war ſie des Abends vernuͤnftig und ge- ſund zu Bette gegangen, des Morgens aber war ſie eben ſo geweſen, wie ſie Stilling nun fand, Niemand konnte die Urſache errathen, woher dieſes Ungluͤck ſeinen Urſprung ge- nommen, der Schulmeiſter ſelber wußte ſie damals noch nicht, bis er ſie hernach aus ihren Reden erfahren hatte. Die ehrliche Frau wollte beide heute nicht gehen laſſen, ſondern ſie erſuchte Stillingen, die Nacht da zu bleiben, und morgen mit der armen Nichte nach Haus zu gehen; er entſchloß ſich willig dazu und blieb da. Des Abends, waͤhrend des Eſſens, ſaß ſie ganz ſtill am Tiſch, aß aber ſehr wenig. Stilling fragte ſie: Sage mir, Anna, ſchmeckt dir das Eſſen nicht? Sie antwortete: Ich habe gegeſſen, aber es bekommt mir nicht gut, — habe Herzweh! Sie ſah wild aus. Stille! fuhr der Schulmeiſter

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/151>, abgerufen am 23.11.2024.