Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

wohl zufrieden. Ja wohl bin ich's zufrieden! fiel er ein, ich
wollte, daß ich schon da wär'! Margarethe und Marie-
chen
wurden traurig und schwiegen still. Der Brief wurde
also von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt.

Dorlingen lag neun ganze Stunden von Tiefenbach
ab. Vielleicht war seit hundert Jahren Niemand aus der
Stilling'schen Familie so weit fortgewandert und so lang ab-
wesend gewesen. Einige Tage vor Heinrichs Abreise trauer-
ten und weinten Alle, nur er selber war innig froh. Wilhelm
verbarg seinen Kummer so viel er konnte. Margarethe
und Mariechen empfanden zu sehr, daß er ein Stilling
war, deßwegen weinten sie am meisten, welches in den blin-
den Staar-Augen der alten Großmutter erbärmlich aussah.

Der letzte Morgen kam, Alle versanken in Wehmuth. Wil-
helm
stellte sich hart gegen ihn; allein der Abschied machte
ihn nur desto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thrä-
nen, aber er lief und wischte sie ab. Zu Lichthausen kehrte
er bei seinem Oheim, Johann Stilling, ein, der ihm
viel schöne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn
mitnehmeu sollten, und Heinrich reiste freudig mit ih-
nen fort.

Die Gegenden, welche er in dieser Jahreszeit durchzureisen
hatte, sahen recht melancholisch aus. Sie machten Eindrücke
auf ihn, die ihn in gewisse Niedergeschlagenheit versetzten.
Wenn Dorlingen in einer solchen Gegend liegt, dachte er
immer, so wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute,
mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte
oft, wie sie zusammen hinter ihm hergingen und über ihn spotte-
ten; denn weil er nichts mit ihnen sprach und etwas blöd
aussah, so hielten sie ihn für einen Schafskopf, mit dem
man machen könnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn
einer von hinten her, und wenn er sich dann umsah, so stellten
sie sich, als wenn sie wichtige Sachen unter sich auszumachen
hätten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben fähig,
seinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte
er sich um, sah sie scharf an und sagte: Hört, ihr Leute, ich
bin und werd' euer Schulmeister zu Dorlingen, und wenn

wohl zufrieden. Ja wohl bin ich’s zufrieden! fiel er ein, ich
wollte, daß ich ſchon da waͤr’! Margarethe und Marie-
chen
wurden traurig und ſchwiegen ſtill. Der Brief wurde
alſo von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt.

Dorlingen lag neun ganze Stunden von Tiefenbach
ab. Vielleicht war ſeit hundert Jahren Niemand aus der
Stilling’ſchen Familie ſo weit fortgewandert und ſo lang ab-
weſend geweſen. Einige Tage vor Heinrichs Abreiſe trauer-
ten und weinten Alle, nur er ſelber war innig froh. Wilhelm
verbarg ſeinen Kummer ſo viel er konnte. Margarethe
und Mariechen empfanden zu ſehr, daß er ein Stilling
war, deßwegen weinten ſie am meiſten, welches in den blin-
den Staar-Augen der alten Großmutter erbaͤrmlich ausſah.

Der letzte Morgen kam, Alle verſanken in Wehmuth. Wil-
helm
ſtellte ſich hart gegen ihn; allein der Abſchied machte
ihn nur deſto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thraͤ-
nen, aber er lief und wiſchte ſie ab. Zu Lichthauſen kehrte
er bei ſeinem Oheim, Johann Stilling, ein, der ihm
viel ſchoͤne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn
mitnehmeu ſollten, und Heinrich reiste freudig mit ih-
nen fort.

Die Gegenden, welche er in dieſer Jahreszeit durchzureiſen
hatte, ſahen recht melancholiſch aus. Sie machten Eindruͤcke
auf ihn, die ihn in gewiſſe Niedergeſchlagenheit verſetzten.
Wenn Dorlingen in einer ſolchen Gegend liegt, dachte er
immer, ſo wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute,
mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte
oft, wie ſie zuſammen hinter ihm hergingen und uͤber ihn ſpotte-
ten; denn weil er nichts mit ihnen ſprach und etwas bloͤd
ausſah, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Schafskopf, mit dem
man machen koͤnnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn
einer von hinten her, und wenn er ſich dann umſah, ſo ſtellten
ſie ſich, als wenn ſie wichtige Sachen unter ſich auszumachen
haͤtten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben faͤhig,
ſeinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte
er ſich um, ſah ſie ſcharf an und ſagte: Hoͤrt, ihr Leute, ich
bin und werd’ euer Schulmeiſter zu Dorlingen, und wenn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0130" n="122"/>
wohl zufrieden. Ja wohl bin ich&#x2019;s zufrieden! fiel er ein, ich<lb/>
wollte, daß ich &#x017F;chon da wa&#x0364;r&#x2019;! <hi rendition="#g">Margarethe</hi> und <hi rendition="#g">Marie-<lb/>
chen</hi> wurden traurig und &#x017F;chwiegen &#x017F;till. Der Brief wurde<lb/>
al&#x017F;o von <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> beantwortet und alles eingewilligt.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Dorling</hi>en lag neun ganze Stunden von <hi rendition="#g">Tiefenbach</hi><lb/>
ab. Vielleicht war &#x017F;eit hundert Jahren Niemand aus der<lb/>
Stilling&#x2019;&#x017F;chen Familie &#x017F;o weit fortgewandert und &#x017F;o lang ab-<lb/>
we&#x017F;end gewe&#x017F;en. Einige Tage vor <hi rendition="#g">Heinrichs</hi> Abrei&#x017F;e trauer-<lb/>
ten und weinten Alle, nur er &#x017F;elber war innig froh. <hi rendition="#g">Wilhelm</hi><lb/>
verbarg &#x017F;einen Kummer &#x017F;o viel er konnte. <hi rendition="#g">Margarethe</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Mariechen</hi> empfanden zu &#x017F;ehr, daß er ein <hi rendition="#g">Stilling</hi><lb/>
war, deßwegen weinten &#x017F;ie am mei&#x017F;ten, welches in den blin-<lb/>
den Staar-Augen der alten Großmutter erba&#x0364;rmlich aus&#x017F;ah.</p><lb/>
            <p>Der letzte Morgen kam, Alle ver&#x017F;anken in Wehmuth. <hi rendition="#g">Wil-<lb/>
helm</hi> &#x017F;tellte &#x017F;ich hart gegen ihn; allein der Ab&#x017F;chied machte<lb/>
ihn nur de&#x017F;to weicher. <hi rendition="#g">Heinrich</hi> vergoß auch viele Thra&#x0364;-<lb/>
nen, aber er lief und wi&#x017F;chte &#x017F;ie ab. Zu <hi rendition="#g">Lichthau&#x017F;en</hi> kehrte<lb/>
er bei &#x017F;einem Oheim, <hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>, ein, der ihm<lb/>
viel &#x017F;cho&#x0364;ne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn<lb/>
mitnehmeu &#x017F;ollten, und <hi rendition="#g">Heinrich</hi> reiste freudig mit ih-<lb/>
nen fort.</p><lb/>
            <p>Die Gegenden, welche er in die&#x017F;er Jahreszeit durchzurei&#x017F;en<lb/>
hatte, &#x017F;ahen recht melancholi&#x017F;ch aus. Sie machten Eindru&#x0364;cke<lb/>
auf ihn, die ihn in gewi&#x017F;&#x017F;e Niederge&#x017F;chlagenheit ver&#x017F;etzten.<lb/>
Wenn <hi rendition="#g">Dorlingen</hi> in einer &#x017F;olchen Gegend liegt, dachte er<lb/>
immer, &#x017F;o wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute,<lb/>
mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte<lb/>
oft, wie &#x017F;ie zu&#x017F;ammen hinter ihm hergingen und u&#x0364;ber ihn &#x017F;potte-<lb/>
ten; denn weil er nichts mit ihnen &#x017F;prach und etwas blo&#x0364;d<lb/>
aus&#x017F;ah, &#x017F;o hielten &#x017F;ie ihn fu&#x0364;r einen Schafskopf, mit dem<lb/>
man machen ko&#x0364;nnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn<lb/>
einer von hinten her, und wenn er &#x017F;ich dann um&#x017F;ah, &#x017F;o &#x017F;tellten<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich, als wenn &#x017F;ie wichtige Sachen unter &#x017F;ich auszumachen<lb/>
ha&#x0364;tten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben fa&#x0364;hig,<lb/>
&#x017F;einen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte<lb/>
er &#x017F;ich um, &#x017F;ah &#x017F;ie &#x017F;charf an und &#x017F;agte: Ho&#x0364;rt, ihr Leute, ich<lb/>
bin und werd&#x2019; euer Schulmei&#x017F;ter zu <hi rendition="#g">Dorlingen</hi>, und wenn<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[122/0130] wohl zufrieden. Ja wohl bin ich’s zufrieden! fiel er ein, ich wollte, daß ich ſchon da waͤr’! Margarethe und Marie- chen wurden traurig und ſchwiegen ſtill. Der Brief wurde alſo von Wilhelm beantwortet und alles eingewilligt. Dorlingen lag neun ganze Stunden von Tiefenbach ab. Vielleicht war ſeit hundert Jahren Niemand aus der Stilling’ſchen Familie ſo weit fortgewandert und ſo lang ab- weſend geweſen. Einige Tage vor Heinrichs Abreiſe trauer- ten und weinten Alle, nur er ſelber war innig froh. Wilhelm verbarg ſeinen Kummer ſo viel er konnte. Margarethe und Mariechen empfanden zu ſehr, daß er ein Stilling war, deßwegen weinten ſie am meiſten, welches in den blin- den Staar-Augen der alten Großmutter erbaͤrmlich ausſah. Der letzte Morgen kam, Alle verſanken in Wehmuth. Wil- helm ſtellte ſich hart gegen ihn; allein der Abſchied machte ihn nur deſto weicher. Heinrich vergoß auch viele Thraͤ- nen, aber er lief und wiſchte ſie ab. Zu Lichthauſen kehrte er bei ſeinem Oheim, Johann Stilling, ein, der ihm viel ſchoͤne Lehren gab. Nun kamen die Fuhrleute, die ihn mitnehmeu ſollten, und Heinrich reiste freudig mit ih- nen fort. Die Gegenden, welche er in dieſer Jahreszeit durchzureiſen hatte, ſahen recht melancholiſch aus. Sie machten Eindruͤcke auf ihn, die ihn in gewiſſe Niedergeſchlagenheit verſetzten. Wenn Dorlingen in einer ſolchen Gegend liegt, dachte er immer, ſo wird mirs doch da nicht gefallen. Die Fuhrleute, mit denen er reiste, waren von da her zu Haus; er merkte oft, wie ſie zuſammen hinter ihm hergingen und uͤber ihn ſpotte- ten; denn weil er nichts mit ihnen ſprach und etwas bloͤd ausſah, ſo hielten ſie ihn fuͤr einen Schafskopf, mit dem man machen koͤnnte, was man wollte. Zuweilen zupfte ihn einer von hinten her, und wenn er ſich dann umſah, ſo ſtellten ſie ſich, als wenn ſie wichtige Sachen unter ſich auszumachen haͤtten. Dergleichen Behandlungen waren nun eben faͤhig, ſeinen Zorn zu reizen; er litt das ein paarmal, endlich drehte er ſich um, ſah ſie ſcharf an und ſagte: Hoͤrt, ihr Leute, ich bin und werd’ euer Schulmeiſter zu Dorlingen, und wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/130
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/130>, abgerufen am 24.11.2024.