er lächelnd: "Stilling! was heißt das auf deutsch: medium tenuere beati?"
Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch däucht mir, man könnte auch sagen: plerique medium tenentes sunt damnati. (Die nehr esten Leute sind verdammt, die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm sind.) Herr Stollbein stutzte, sah ihn an und sagte: Junge! ich sage dir, du sollst das Recht haben, voran zu stehen, du hast vortrefflich geantwortet. Doch nun stand er nie wieder vornen, damit ihm die andern Kindern nicht bös werden möch- ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehst du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer sich selbst er- niedriget, der soll erhöhet werden. Schweig! erwiederte der Pastor, du bist ein vorwitziger Bursche.
Dieses ging nun so seinen Gang fort bis ins Jahr 1755 auf Ostern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieser Zeit ließ ihn Herr Pastor Stollbein allein vor sich kommen und sagte zu ihm: Hör', Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber hübsch fromm und mir, deinem Vor- gesetzten, gehorsam seyn; auf Ostern will ich dich mit noch andern, die älter sind, als du, zum heiligen Abendmahl ein- segnen, und dann will ich sehen, ob ich dich nicht zum Schul- meister machen kann. Stilling hüpfte das Herz vor Freu- den, er dankte dem Pastor und versprach, alles zu thun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt sein Wort treulich; denn auf Ostern ging er zum Nachtmahl, und alsofort wurde er zum Schulmeister nach Zellberg bestimmt, welches Amt er den ersten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver- langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn sein Ruf war weit und breit erschollen. Die Wonne läßt sich nicht ausspre- chen, welche der junge Stilling hierüber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt seines Amts be- stimmt war.
Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man
er laͤchelnd: „Stilling! was heißt das auf deutſch: medium tenuere beati?“
Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten; doch daͤucht mir, man koͤnnte auch ſagen: plerique medium tenentes sunt damnati. (Die nehr eſten Leute ſind verdammt, die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm ſind.) Herr Stollbein ſtutzte, ſah ihn an und ſagte: Junge! ich ſage dir, du ſollſt das Recht haben, voran zu ſtehen, du haſt vortrefflich geantwortet. Doch nun ſtand er nie wieder vornen, damit ihm die andern Kindern nicht boͤs werden moͤch- ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehſt du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer ſich ſelbſt er- niedriget, der ſoll erhoͤhet werden. Schweig! erwiederte der Paſtor, du biſt ein vorwitziger Burſche.
Dieſes ging nun ſo ſeinen Gang fort bis ins Jahr 1755 auf Oſtern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieſer Zeit ließ ihn Herr Paſtor Stollbein allein vor ſich kommen und ſagte zu ihm: Hoͤr’, Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir machen, du mußt aber huͤbſch fromm und mir, deinem Vor- geſetzten, gehorſam ſeyn; auf Oſtern will ich dich mit noch andern, die aͤlter ſind, als du, zum heiligen Abendmahl ein- ſegnen, und dann will ich ſehen, ob ich dich nicht zum Schul- meiſter machen kann. Stilling huͤpfte das Herz vor Freu- den, er dankte dem Paſtor und verſprach, alles zu thun, was er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen, er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt ſein Wort treulich; denn auf Oſtern ging er zum Nachtmahl, und alſofort wurde er zum Schulmeiſter nach Zellberg beſtimmt, welches Amt er den erſten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver- langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn ſein Ruf war weit und breit erſchollen. Die Wonne laͤßt ſich nicht ausſpre- chen, welche der junge Stilling hieruͤber empfand, er konnte kaum den Tag erwarten, der zum Antritt ſeines Amts be- ſtimmt war.
Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man
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er laͤchelnd: „Stilling! was heißt das auf deutſch: medium
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Das heißt: die Seligen haben den Mittelweg gehalten;
doch daͤucht mir, man koͤnnte auch ſagen: plerique medium
tenentes sunt damnati. (Die nehr eſten Leute ſind verdammt,
die das Mittel gehalten haben, d. i. die weder kalt noch warm
ſind.) Herr Stollbein ſtutzte, ſah ihn an und ſagte: Junge!
ich ſage dir, du ſollſt das Recht haben, voran zu ſtehen, du
haſt vortrefflich geantwortet. Doch nun ſtand er nie wieder
vornen, damit ihm die andern Kindern nicht boͤs werden moͤch-
ten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit oder ob es Demuth
war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehſt
du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer ſich ſelbſt er-
niedriget, der ſoll erhoͤhet werden. Schweig! erwiederte der
Paſtor, du biſt ein vorwitziger Burſche.
Dieſes ging nun ſo ſeinen Gang fort bis ins Jahr 1755
auf Oſtern, da Heinrich Stilling vierzehn und ein halb
Jahr alt war; vierzehn Tage vor dieſer Zeit ließ ihn Herr
Paſtor Stollbein allein vor ſich kommen und ſagte zu ihm:
Hoͤr’, Stilling, ich wollte gern einen braven Kerl aus dir
machen, du mußt aber huͤbſch fromm und mir, deinem Vor-
geſetzten, gehorſam ſeyn; auf Oſtern will ich dich mit noch
andern, die aͤlter ſind, als du, zum heiligen Abendmahl ein-
ſegnen, und dann will ich ſehen, ob ich dich nicht zum Schul-
meiſter machen kann. Stilling huͤpfte das Herz vor Freu-
den, er dankte dem Paſtor und verſprach, alles zu thun, was
er haben wollte. Das gefiel dem alten Manne von Herzen,
er ließ ihn im Frieden gehen, und hielt ſein Wort treulich;
denn auf Oſtern ging er zum Nachtmahl, und alſofort wurde
er zum Schulmeiſter nach Zellberg beſtimmt, welches Amt
er den erſten Mai antreten mußte. Die Zellberger ver-
langten auch mit Schmerzen nach ihm; denn ſein Ruf war
weit und breit erſchollen. Die Wonne laͤßt ſich nicht ausſpre-
chen, welche der junge Stilling hieruͤber empfand, er konnte
kaum den Tag erwarten, der zum Antritt ſeines Amts be-
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Zellberg liegt eben hinter der Spitze des Gillers, man
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/116>, abgerufen am 24.11.2024.
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