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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Kopf; besonders ergötzte ihn die Sonnenuhrkunst über die
Maße. Es sah komisch a[ - 2 Zeichen fehlen] wie er sich den Winkel, in wel-
chem er saß und nähte, so nach seiner Phantasie ausstaffirt hatte:
die Fensterscheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor
dem Fenster stand ein viereckigter Klotz, in Gestalt eines Wür-
fel, mit Papier überzogen und auf allen fünf Seiten mit Son-
nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Nähnadeln
waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son-
nenuhr, die von einem Stücklein Spiegel im Fenster erleuch-
tet wurde; und ein astronomischer Ring von Fischbein hing an
einem Faden vor dem Fenster; dieser mußte auch die Stelle
der Taschenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle diese Uhren
waren nicht allein gründlich und richtig gezeichnet, sondern er
verstand auch schon dazumal die gemeine Geometrie nebst dem
Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein
Knabe von zwölf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand-
werk war.



Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn
Stollbein in die Catechisation zu gehen; das war ihm nun
zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch seine Beschwer-
den; denn da der Pastor immer ein Aug auf ihn hatte, so ent-
deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel;
zum Beispiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechisa-
tionsstube kam, so war er immer der Vorderste, und hatte also
auch immer den obersten Stand; dieses konnte nun der Pa-
stor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De-
muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und sagte:

"Warum bist du immer der Vorderste?"

Er antwortete: wenns Lernen gilt, so bin ich nicht gern
der Hinterste.

"Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwischen Hinten und
Vornen?"

Stilling hätte gern noch ein Wörtchen dazu gesetzt, al-
lein er fürchtete sich, den Pastor zu erzürnen. Herr Stollbein
spazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, sagte

Kopf; beſonders ergoͤtzte ihn die Sonnenuhrkunſt uͤber die
Maße. Es ſah komiſch a[ – 2 Zeichen fehlen] wie er ſich den Winkel, in wel-
chem er ſaß und naͤhte, ſo nach ſeiner Phantaſie ausſtaffirt hatte:
die Fenſterſcheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor
dem Fenſter ſtand ein viereckigter Klotz, in Geſtalt eines Wuͤr-
fel, mit Papier uͤberzogen und auf allen fuͤnf Seiten mit Son-
nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Naͤhnadeln
waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son-
nenuhr, die von einem Stuͤcklein Spiegel im Fenſter erleuch-
tet wurde; und ein aſtronomiſcher Ring von Fiſchbein hing an
einem Faden vor dem Fenſter; dieſer mußte auch die Stelle
der Taſchenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle dieſe Uhren
waren nicht allein gruͤndlich und richtig gezeichnet, ſondern er
verſtand auch ſchon dazumal die gemeine Geometrie nebſt dem
Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein
Knabe von zwoͤlf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand-
werk war.



Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn
Stollbein in die Catechiſation zu gehen; das war ihm nun
zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch ſeine Beſchwer-
den; denn da der Paſtor immer ein Aug auf ihn hatte, ſo ent-
deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel;
zum Beiſpiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechiſa-
tionsſtube kam, ſo war er immer der Vorderſte, und hatte alſo
auch immer den oberſten Stand; dieſes konnte nun der Pa-
ſtor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De-
muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und ſagte:

„Warum biſt du immer der Vorderſte?“

Er antwortete: wenns Lernen gilt, ſo bin ich nicht gern
der Hinterſte.

„Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwiſchen Hinten und
Vornen?“

Stilling haͤtte gern noch ein Woͤrtchen dazu geſetzt, al-
lein er fuͤrchtete ſich, den Paſtor zu erzuͤrnen. Herr Stollbein
ſpazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, ſagte

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[107/0115] Kopf; beſonders ergoͤtzte ihn die Sonnenuhrkunſt uͤber die Maße. Es ſah komiſch a__ wie er ſich den Winkel, in wel- chem er ſaß und naͤhte, ſo nach ſeiner Phantaſie ausſtaffirt hatte: die Fenſterſcheiben waren voll Sonnenuhren, inwendig vor dem Fenſter ſtand ein viereckigter Klotz, in Geſtalt eines Wuͤr- fel, mit Papier uͤberzogen und auf allen fuͤnf Seiten mit Son- nenuhren bezeichnet, deren Zeiger abgebrochene Naͤhnadeln waren: oben unter der Stubendecke war gleichfalls eine Son- nenuhr, die von einem Stuͤcklein Spiegel im Fenſter erleuch- tet wurde; und ein aſtronomiſcher Ring von Fiſchbein hing an einem Faden vor dem Fenſter; dieſer mußte auch die Stelle der Taſchenuhr vertreten, wenn er ausging. Alle dieſe Uhren waren nicht allein gruͤndlich und richtig gezeichnet, ſondern er verſtand auch ſchon dazumal die gemeine Geometrie nebſt dem Rechnen und Schreiben aus dem Grund, ob er gleich nur ein Knabe von zwoͤlf Jahren und ein Lehrjunge im Schneiderhand- werk war. Der junge Stilling fing auch nunmehr an, zu Herrn Stollbein in die Catechiſation zu gehen; das war ihm nun zwar eine Kleinigkeit, allein es hatte doch auch ſeine Beſchwer- den; denn da der Paſtor immer ein Aug auf ihn hatte, ſo ent- deckte er auch immer Etwas an ihm, das ihm nicht gefiel; zum Beiſpiel: wenn er in die Kirche oder in die Catechiſa- tionsſtube kam, ſo war er immer der Vorderſte, und hatte alſo auch immer den oberſten Stand; dieſes konnte nun der Pa- ſtor gar nicht leiden, denn er liebte an andern Leuten die De- muth ungemein. Einsmals fuhr er ihn an und ſagte: „Warum biſt du immer der Vorderſte?“ Er antwortete: wenns Lernen gilt, ſo bin ich nicht gern der Hinterſte. „Ei, weißt du Schlingel kein Mittel zwiſchen Hinten und Vornen?“ Stilling haͤtte gern noch ein Woͤrtchen dazu geſetzt, al- lein er fuͤrchtete ſich, den Paſtor zu erzuͤrnen. Herr Stollbein ſpazirte die Stube ab, und indem er wieder heraufkam, ſagte

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/115>, abgerufen am 24.11.2024.