Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen seiner Voreltern hingegangen, und in seinem Hause ruhte alles in trauriger Todesstille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus- geräthe seinen bestimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Nähe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. -- Man trat in die Hausthür, und war daheim. -- Aber nun hing alles öd und still; Ge- sang und Freude schwiegen, und am Tisch blieb seine Stelle leer; Niemand getraute sich, sich hinzusetzen, bis sie Hein- rich endlich einnahm, aber er füllte sie nur halb aus.
Margarethe trauerte indessen still und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von seinem Großvater. Er dachte sich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Wäldern, Wiesen und Feldern, wie sie im schönsten Mai grünen und blü- hen, wenn der Südwind darüber her fächelt, und die Sonne jedem Geschöpfe Leben und Gedeihen einflößt. Dann sah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein silberweiß Gewand um ihn herabfließen.
Auf diese Vorstellung bezogen sich alle seine Reden. Eins- mals fragte ihn Margarethe: Was meinst du, Heinrich! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengestirn reisen und alles wohl besehen, und dann wird er sich erst recht verwundern, und sagen, wie er so oft gesagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! -- Dazu hab' ich aber keine Lust, erwiederte Margarethe; was werd' ich denn da ma- chen? Heinrich versetzte: so wie es Marie machte, die zu den Füßen Jesus saß. Mit dergleichen Unterredungen
Heinrich Stillings Jünglingsjahre.
Vater Stilling war zu den ruhigen Wohnungen ſeiner Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus- geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung: und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr, und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge- ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein- rich endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus.
Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen; Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern, Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ- hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen.
Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins- mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich! was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat: O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma- chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen
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Heinrich Stillings Jünglingsjahre.
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Voreltern hingegangen, und in ſeinem Hauſe ruhte alles in
trauriger Todesſtille. Seit mehr als hundert Jahren hatte
eine jede Holzart, ein jedes Milchfaß, und jedes andere Haus-
geraͤthe ſeinen beſtimmten Ort, der vom langen Gebrauch glatt
und polirt war. Ein jeder Nachbar und Freund, aus der
Naͤhe und Ferne, fand immer alles in gewohnter Ordnung:
und das macht vertraulich. — Man trat in die Hausthuͤr,
und war daheim. — Aber nun hing alles oͤd und ſtill; Ge-
ſang und Freude ſchwiegen, und am Tiſch blieb ſeine Stelle
leer; Niemand getraute ſich, ſich hinzuſetzen, bis ſie Hein-
rich endlich einnahm, aber er fuͤllte ſie nur halb aus.
Margarethe trauerte indeſſen ſtill und ohne Klagen;
Heinrich aber redete viel mit ihr von ſeinem Großvater. Er
dachte ſich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Waͤldern,
Wieſen und Feldern, wie ſie im ſchoͤnſten Mai gruͤnen und bluͤ-
hen, wenn der Suͤdwind daruͤber her faͤchelt, und die Sonne
jedem Geſchoͤpfe Leben und Gedeihen einfloͤßt. Dann ſah er
Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten,
und ein ſilberweiß Gewand um ihn herabfließen.
Auf dieſe Vorſtellung bezogen ſich alle ſeine Reden. Eins-
mals fragte ihn Margarethe: Was meinſt du, Heinrich!
was dein Großvater jetzt machen wird? Er antwortete: er
wird nach dem Orion, nach dem Sirius, dem Wagen und dem
Siebengeſtirn reiſen und alles wohl beſehen, und dann wird er
ſich erſt recht verwundern, und ſagen, wie er ſo oft geſagt hat:
O welch ein wunderbarer Gott! — Dazu hab’ ich aber keine
Luſt, erwiederte Margarethe; was werd’ ich denn da ma-
chen? Heinrich verſetzte: ſo wie es Marie machte, die
zu den Fuͤßen Jeſus ſaß. Mit dergleichen Unterredungen
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1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. [101]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/109>, abgerufen am 24.11.2024.
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