andern Tages seinen Sohn besuchen. Dieser Gedanke war seiner Frau und Tochter sehr zuwider. Des Mittags über Tisch ermahnten sie ihn wieder ernstlich, vom Dach zu bleiben; selbst Heinrich bat ihn, Jemand für Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche Greis lächelte mit einer unumschränkten Gewalt um sich her; ein Lächeln, das so manchem Menschen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingeprägt hatte! Dabei sagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beständig guten Gewissen alt ge- worden, sich vieler guten Handlungen bewußt ist, und von Ju- gend auf sich an einen freien Umgang mit Gott und seinem Erlöser gewöhnt hat, gelangt zu einer Größe und Freiheit, die nie der größte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf diese treugemeinten Ermahnungen der Sei- nigen bestand darin: Er wollte da auf den Kirschenbaum stei- gen, und sich noch einmal recht satt Kirschen essen. Es war nämlich ein Baum, der hinten im Hof stand, und sehr spät, aber desto vortrefflicher Früchte trug. Seine Frau und Tochter ver- wunderten sich über diesen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah- ren auf keinem Baum gewesen. Nun dann! sagte Marga- rethe, du mußt nun vor diese Zeit in die Höh, es mag kosten was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je höher, je näher zum Himmel! Damit ging er zur Thür hinaus, und Heinrich hinter ihm her auf den Kirschenbaum zu. Er faßte den Baum in seine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis oben hin, setzte sich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir- schen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aestchen herab. Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! sagte die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen, daß ich nur die untersten Aeste fassen kann, ich muß da probieren, ob ich auch noch hinauf kann. Es gerieth; sie kam hinauf, Stilling sah herab und lachte herzlich, und sagte: das heißt recht verjüngt werden, wie die Adler. Da saßen beide ehrliche alte Grauköpfe in den Aesten des Kirschbaumes, und genossen noch einmal zu- sammen die süßen Früchte ihrer Jugend; besonders war Stil- ling aufgeräumt. Margarethe stieg wieder herab, und ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke
andern Tages ſeinen Sohn beſuchen. Dieſer Gedanke war ſeiner Frau und Tochter ſehr zuwider. Des Mittags uͤber Tiſch ermahnten ſie ihn wieder ernſtlich, vom Dach zu bleiben; ſelbſt Heinrich bat ihn, Jemand fuͤr Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche Greis laͤchelte mit einer unumſchraͤnkten Gewalt um ſich her; ein Laͤcheln, das ſo manchem Menſchen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingepraͤgt hatte! Dabei ſagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beſtaͤndig guten Gewiſſen alt ge- worden, ſich vieler guten Handlungen bewußt iſt, und von Ju- gend auf ſich an einen freien Umgang mit Gott und ſeinem Erloͤſer gewoͤhnt hat, gelangt zu einer Groͤße und Freiheit, die nie der groͤßte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort Stillings auf dieſe treugemeinten Ermahnungen der Sei- nigen beſtand darin: Er wollte da auf den Kirſchenbaum ſtei- gen, und ſich noch einmal recht ſatt Kirſchen eſſen. Es war naͤmlich ein Baum, der hinten im Hof ſtand, und ſehr ſpaͤt, aber deſto vortrefflicher Fruͤchte trug. Seine Frau und Tochter ver- wunderten ſich uͤber dieſen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah- ren auf keinem Baum geweſen. Nun dann! ſagte Marga- rethe, du mußt nun vor dieſe Zeit in die Hoͤh, es mag koſten was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je hoͤher, je naͤher zum Himmel! Damit ging er zur Thuͤr hinaus, und Heinrich hinter ihm her auf den Kirſchenbaum zu. Er faßte den Baum in ſeine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis oben hin, ſetzte ſich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir- ſchen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aeſtchen herab. Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! ſagte die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen, daß ich nur die unterſten Aeſte faſſen kann, ich muß da probieren, ob ich auch noch hinauf kann. Es gerieth; ſie kam hinauf, Stilling ſah herab und lachte herzlich, und ſagte: das heißt recht verjuͤngt werden, wie die Adler. Da ſaßen beide ehrliche alte Graukoͤpfe in den Aeſten des Kirſchbaumes, und genoſſen noch einmal zu- ſammen die ſuͤßen Fruͤchte ihrer Jugend; beſonders war Stil- ling aufgeraͤumt. Margarethe ſtieg wieder herab, und ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke
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Heinrich bat ihn, Jemand fuͤr Lohn zu kriegen, der vollends
mit der Deckerei ein Ende mache. Allein, der vortreffliche
Greis laͤchelte mit einer unumſchraͤnkten Gewalt um ſich her;
ein Laͤcheln, das ſo manchem Menſchen das Herz geraubt und
Ehrfurcht eingepraͤgt hatte! Dabei ſagte er aber kein Wort.
Ein Mann, der mit einem beſtaͤndig guten Gewiſſen alt ge-
worden, ſich vieler guten Handlungen bewußt iſt, und von Ju-
gend auf ſich an einen freien Umgang mit Gott und ſeinem
Erloͤſer gewoͤhnt hat, gelangt zu einer Groͤße und Freiheit,
die nie der groͤßte Eroberer erreicht hat. Die ganze Antwort
Stillings auf dieſe treugemeinten Ermahnungen der Sei-
nigen beſtand darin: Er wollte da auf den Kirſchenbaum ſtei-
gen, und ſich noch einmal recht ſatt Kirſchen eſſen. Es war
naͤmlich ein Baum, der hinten im Hof ſtand, und ſehr ſpaͤt, aber
deſto vortrefflicher Fruͤchte trug. Seine Frau und Tochter ver-
wunderten ſich uͤber dieſen Einfall, denn er war wohl in zehn Jah-
ren auf keinem Baum geweſen. Nun dann! ſagte Marga-
rethe, du mußt nun vor dieſe Zeit in die Hoͤh, es mag koſten
was es wolle. Eberhard lachte und antwortete: Je hoͤher,
je naͤher zum Himmel! Damit ging er zur Thuͤr hinaus, und
Heinrich hinter ihm her auf den Kirſchenbaum zu. Er faßte
den Baum in ſeine Arme und die Knie, und kletterte hinauf bis
oben hin, ſetzte ſich in eine Furke des Baums, fing an, aß Kir-
ſchen, und warf Heinrichen zuweilen ein Aeſtchen herab.
Margarethe und Mariechen kamen ebenfalls. Halt! ſagte
die ehrliche Frau, heb mich ein wenig, Mariechen, daß ich
nur die unterſten Aeſte faſſen kann, ich muß da probieren, ob ich
auch noch hinauf kann. Es gerieth; ſie kam hinauf, Stilling
ſah herab und lachte herzlich, und ſagte: das heißt recht verjuͤngt
werden, wie die Adler. Da ſaßen beide ehrliche alte Graukoͤpfe
in den Aeſten des Kirſchbaumes, und genoſſen noch einmal zu-
ſammen die ſuͤßen Fruͤchte ihrer Jugend; beſonders war Stil-
ling aufgeraͤumt. Margarethe ſtieg wieder herab, und
ging mit Mariechen in den Garten, der eine ziemliche Strecke
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/101>, abgerufen am 24.11.2024.
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