Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Das Gemeinsame der Fälle, welche wir bisher betrachtet haben, besteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen selb- ständigen Anspruch gegenüber stellt, ohne daß derselbe processua- lisch im Mindesten sichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck erst eines besondern Zuschnitts der Klagformel bedürfte. Die Rücksicht auf das dem Beklagten zustehende Recht kann zwar in einigen dieser Fälle dem Kläger Veranlassung geben, die Form der processualischen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen Interesse; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit jenes Einwandes zu verschaffen, ist es nicht nöthig. Denn dieser Einwand hält sich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in- dem durch einen von der Jurisprudenz aufgestellten Rechtssatz dem Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt ist, das des Klä- gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuschließen, -- und so wenig es sonst für Gründe, welche dieselbe Wirkung äußern, z. B. den Einwand der Zahlung eines besondern Vermerks in der Klagformel bedarf, ebenso wenig für jenen Einwand.
Der Weg, den die Juristen hier eingeschlagen haben, der einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunsten processualischer Zwecke oder, wenn ich so sagen darf, einer in einen Rechtssatz versteckten Einrede wiederholt sich noch in manchen andern Fällen, die nicht unter unsern Gesichtspunkt der Geltendmachung eines Gegenanspruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man- chen Sätzen des materiellen Rechts diesen, ich möchte sagen, processualischen Zug nicht verkennen können. Wenn man hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer sollte im ersten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an- dere Erforderniß, so auch dieses, wenn es ihm bestritten wurde, beweisen müsse? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um- hin können, dies für widersinnig zu erklären. Aber welchen Sinn
79)L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum esse dantem.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Das Gemeinſame der Fälle, welche wir bisher betrachtet haben, beſteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen ſelb- ſtändigen Anſpruch gegenüber ſtellt, ohne daß derſelbe proceſſua- liſch im Mindeſten ſichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck erſt eines beſondern Zuſchnitts der Klagformel bedürfte. Die Rückſicht auf das dem Beklagten zuſtehende Recht kann zwar in einigen dieſer Fälle dem Kläger Veranlaſſung geben, die Form der proceſſualiſchen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen Intereſſe; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit jenes Einwandes zu verſchaffen, iſt es nicht nöthig. Denn dieſer Einwand hält ſich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in- dem durch einen von der Jurisprudenz aufgeſtellten Rechtsſatz dem Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt iſt, das des Klä- gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuſchließen, — und ſo wenig es ſonſt für Gründe, welche dieſelbe Wirkung äußern, z. B. den Einwand der Zahlung eines beſondern Vermerks in der Klagformel bedarf, ebenſo wenig für jenen Einwand.
Der Weg, den die Juriſten hier eingeſchlagen haben, der einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunſten proceſſualiſcher Zwecke oder, wenn ich ſo ſagen darf, einer in einen Rechtsſatz verſteckten Einrede wiederholt ſich noch in manchen andern Fällen, die nicht unter unſern Geſichtspunkt der Geltendmachung eines Gegenanſpruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man- chen Sätzen des materiellen Rechts dieſen, ich möchte ſagen, proceſſualiſchen Zug nicht verkennen können. Wenn man hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer ſollte im erſten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an- dere Erforderniß, ſo auch dieſes, wenn es ihm beſtritten wurde, beweiſen müſſe? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um- hin können, dies für widerſinnig zu erklären. Aber welchen Sinn
79)L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum esse dantem.
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Das Gemeinſame der Fälle, welche wir bisher betrachtet
haben, beſteht darin, daß der Beklagte dem Kläger einen ſelb-
ſtändigen Anſpruch gegenüber ſtellt, ohne daß derſelbe proceſſua-
liſch im Mindeſten ſichtbar wird und ohne daß es zu dem Zweck
erſt eines beſondern Zuſchnitts der Klagformel bedürfte. Die
Rückſicht auf das dem Beklagten zuſtehende Recht kann zwar in
einigen dieſer Fälle dem Kläger Veranlaſſung geben, die Form
der proceſſualiſchen Verfolgung des eigenen Rechts etwas zu
modificiren, allein er thut dies wohl gemerkt nur im eigenen
Intereſſe; für den Beklagten, um nämlich ihm die Möglichkeit
jenes Einwandes zu verſchaffen, iſt es nicht nöthig. Denn dieſer
Einwand hält ſich ganz innerhalb der Gränzen der Negation, in-
dem durch einen von der Jurisprudenz aufgeſtellten Rechtsſatz dem
Recht des Beklagten die Wirkung beigelegt iſt, das des Klä-
gers ganz oder zum Theil ipso jure auszuſchließen, — und ſo
wenig es ſonſt für Gründe, welche dieſelbe Wirkung äußern,
z. B. den Einwand der Zahlung eines beſondern Vermerks in der
Klagformel bedarf, ebenſo wenig für jenen Einwand.
Der Weg, den die Juriſten hier eingeſchlagen haben, der
einer Appretur des materiellen Rechts zu Gunſten proceſſualiſcher
Zwecke oder, wenn ich ſo ſagen darf, einer in einen Rechtsſatz
verſteckten Einrede wiederholt ſich noch in manchen andern Fällen,
die nicht unter unſern Geſichtspunkt der Geltendmachung eines
Gegenanſpruchs fallen. Wer dafür ein Auge hat, wird in man-
chen Sätzen des materiellen Rechts dieſen, ich möchte ſagen,
proceſſualiſchen Zug nicht verkennen können. Wenn man
hört: das Darlehn erfordere Eigenthumsübergang, 79) wer ſollte
im erſten Moment nicht glauben, daß der Kläger, wie jedes an-
dere Erforderniß, ſo auch dieſes, wenn es ihm beſtritten wurde,
beweiſen müſſe? Bei einigem Nachdenken wird man nicht um-
hin können, dies für widerſinnig zu erklären. Aber welchen Sinn
79) L. 2 §. 4 de R. Cr. (12. 1) In mutui datione oportet dominum
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/92>, abgerufen am 16.02.2025.
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