Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Die bisherige Ausführung hat uns gezeigt, daß die unbe- gränzte Zulassung des Vertheidigungsmaterials in Form der Defensive, weit entfernt durch die Idee der Gerechtigkeit geboten zu sein, umgekehrt mit den Anforderungen der wahren, äch- ten Gerechtigkeit, welche sich nicht allein nach dem bemißt, was sie gibt, sondern auch nach dem, wann sie es gibt, unter Umständen in schneidenden Widerspruch treten kann, und dieses Unrecht zu erkennen und zu beseitigen -- darein setze ich die Idee und Bestimmung der processualischen Gerechtigkeit. Ob mehr das Gefühl oder die Vorstellung von ihr es war, was die ältere Jurisprudenz bei der Gestaltung des Processes leitete, oder mehr die Rücksicht auf die durch Häufung der Fragen be- drohte Einfachheit und Uebersichtlichkeit des Processes, also ein Gesichtspunkt der legislativen Politik, darüber wäre es müßig zu rechten; genug! der ältere Proceß gibt beiden Gedanken ihr volles Recht.
Es liegt die Frage nahe, nach welchen Rücksichten die Ver- theilung des Vertheidigungsmaterials unter die beiden Formen erfolgt sein mag, warum der eine Einwand in die einer Negation oder exceptio, der andere in die einer Gegenklage gebracht worden ist. Um diese Frage zu beantworten, müßte die Geschichte uns tiefere Blicke in die innere Entwickelung des römischen Rechts, vor allem des Condictionensystems verstattet haben, als sie es in Wirklichkeit gethan. Manches ist dabei unzweifelhaft rein histo- risch. So z. B. glaube ich, daß der Begriff einer Aufhebung der Rechte "ipso jure" und die Zahl der einzelnen Fälle im Laufe der Zeit in ähnlicher Weise etwas Feststehendes und historisch Ab- geschlossenes geworden ist, wie der Begriff und die Zahl der con- tractus und delicta. Gründe, denen erst das spätere Recht eine aufhebende Wirkung zugestand, wurden daher schon darum in die Form der Klage getrieben, weil ihnen die der Negation (s. u.) verschlossen war, die der exceptio aber, selbst wenn sie damals bereits existirte, wenigstens solange noch die ursprünglichen An- schauungen nicht ganz abhanden gekommen waren, ungleich
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Die bisherige Ausführung hat uns gezeigt, daß die unbe- gränzte Zulaſſung des Vertheidigungsmaterials in Form der Defenſive, weit entfernt durch die Idee der Gerechtigkeit geboten zu ſein, umgekehrt mit den Anforderungen der wahren, äch- ten Gerechtigkeit, welche ſich nicht allein nach dem bemißt, was ſie gibt, ſondern auch nach dem, wann ſie es gibt, unter Umſtänden in ſchneidenden Widerſpruch treten kann, und dieſes Unrecht zu erkennen und zu beſeitigen — darein ſetze ich die Idee und Beſtimmung der proceſſualiſchen Gerechtigkeit. Ob mehr das Gefühl oder die Vorſtellung von ihr es war, was die ältere Jurisprudenz bei der Geſtaltung des Proceſſes leitete, oder mehr die Rückſicht auf die durch Häufung der Fragen be- drohte Einfachheit und Ueberſichtlichkeit des Proceſſes, alſo ein Geſichtspunkt der legislativen Politik, darüber wäre es müßig zu rechten; genug! der ältere Proceß gibt beiden Gedanken ihr volles Recht.
Es liegt die Frage nahe, nach welchen Rückſichten die Ver- theilung des Vertheidigungsmaterials unter die beiden Formen erfolgt ſein mag, warum der eine Einwand in die einer Negation oder exceptio, der andere in die einer Gegenklage gebracht worden iſt. Um dieſe Frage zu beantworten, müßte die Geſchichte uns tiefere Blicke in die innere Entwickelung des römiſchen Rechts, vor allem des Condictionenſyſtems verſtattet haben, als ſie es in Wirklichkeit gethan. Manches iſt dabei unzweifelhaft rein hiſto- riſch. So z. B. glaube ich, daß der Begriff einer Aufhebung der Rechte „ipso jure“ und die Zahl der einzelnen Fälle im Laufe der Zeit in ähnlicher Weiſe etwas Feſtſtehendes und hiſtoriſch Ab- geſchloſſenes geworden iſt, wie der Begriff und die Zahl der con- tractus und delicta. Gründe, denen erſt das ſpätere Recht eine aufhebende Wirkung zugeſtand, wurden daher ſchon darum in die Form der Klage getrieben, weil ihnen die der Negation (ſ. u.) verſchloſſen war, die der exceptio aber, ſelbſt wenn ſie damals bereits exiſtirte, wenigſtens ſolange noch die urſprünglichen An- ſchauungen nicht ganz abhanden gekommen waren, ungleich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><pbfacs="#f0070"n="54"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchn. <hirendition="#aq">III.</hi> Die Technik. <hirendition="#aq">A.</hi> Die Analytik.</fw><lb/><p>Die bisherige Ausführung hat uns gezeigt, daß die unbe-<lb/>
gränzte Zulaſſung des Vertheidigungsmaterials in Form der<lb/>
Defenſive, weit entfernt durch die Idee der Gerechtigkeit geboten<lb/>
zu ſein, umgekehrt mit den Anforderungen der <hirendition="#g">wahren, äch-<lb/>
ten</hi> Gerechtigkeit, welche ſich nicht allein nach dem bemißt,<lb/><hirendition="#g">was</hi>ſie gibt, ſondern auch nach dem, <hirendition="#g">wann</hi>ſie es gibt, unter<lb/>
Umſtänden in ſchneidenden Widerſpruch treten kann, und dieſes<lb/>
Unrecht zu erkennen und zu beſeitigen — darein ſetze ich die Idee<lb/>
und Beſtimmung der <hirendition="#g">proceſſualiſchen Gerechtigkeit</hi>. Ob<lb/>
mehr das Gefühl oder die Vorſtellung von <hirendition="#g">ihr</hi> es war, was die<lb/>
ältere Jurisprudenz bei der Geſtaltung des Proceſſes leitete,<lb/>
oder mehr die Rückſicht auf die durch Häufung der Fragen be-<lb/>
drohte Einfachheit und Ueberſichtlichkeit des Proceſſes, alſo ein<lb/>
Geſichtspunkt der legislativen Politik, darüber wäre es müßig<lb/>
zu rechten; genug! der ältere Proceß gibt <hirendition="#g">beiden</hi> Gedanken ihr<lb/>
volles Recht.</p><lb/><p>Es liegt die Frage nahe, nach welchen Rückſichten die Ver-<lb/>
theilung des Vertheidigungsmaterials unter die beiden Formen<lb/>
erfolgt ſein mag, warum der eine Einwand in die einer Negation<lb/>
oder <hirendition="#aq">exceptio,</hi> der andere in die einer Gegenklage gebracht worden<lb/>
iſt. Um dieſe Frage zu beantworten, müßte die Geſchichte uns<lb/>
tiefere Blicke in die innere Entwickelung des römiſchen Rechts, vor<lb/>
allem des Condictionenſyſtems verſtattet haben, als ſie es in<lb/>
Wirklichkeit gethan. Manches iſt dabei unzweifelhaft rein hiſto-<lb/>
riſch. So z. B. glaube ich, daß der Begriff einer Aufhebung der<lb/>
Rechte <hirendition="#aq">„ipso jure“</hi> und die Zahl der einzelnen Fälle im Laufe der<lb/>
Zeit in ähnlicher Weiſe etwas Feſtſtehendes und hiſtoriſch Ab-<lb/>
geſchloſſenes geworden iſt, wie der Begriff und die Zahl der <hirendition="#aq">con-<lb/>
tractus</hi> und <hirendition="#aq">delicta.</hi> Gründe, denen erſt das ſpätere Recht eine<lb/>
aufhebende Wirkung zugeſtand, wurden daher ſchon darum in die<lb/>
Form der <hirendition="#g">Klage</hi> getrieben, weil ihnen die der Negation (ſ. u.)<lb/>
verſchloſſen war, die der <hirendition="#aq">exceptio</hi> aber, ſelbſt wenn ſie damals<lb/>
bereits exiſtirte, wenigſtens ſolange noch die urſprünglichen An-<lb/>ſchauungen nicht ganz abhanden gekommen waren, ungleich<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[54/0070]
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
Die bisherige Ausführung hat uns gezeigt, daß die unbe-
gränzte Zulaſſung des Vertheidigungsmaterials in Form der
Defenſive, weit entfernt durch die Idee der Gerechtigkeit geboten
zu ſein, umgekehrt mit den Anforderungen der wahren, äch-
ten Gerechtigkeit, welche ſich nicht allein nach dem bemißt,
was ſie gibt, ſondern auch nach dem, wann ſie es gibt, unter
Umſtänden in ſchneidenden Widerſpruch treten kann, und dieſes
Unrecht zu erkennen und zu beſeitigen — darein ſetze ich die Idee
und Beſtimmung der proceſſualiſchen Gerechtigkeit. Ob
mehr das Gefühl oder die Vorſtellung von ihr es war, was die
ältere Jurisprudenz bei der Geſtaltung des Proceſſes leitete,
oder mehr die Rückſicht auf die durch Häufung der Fragen be-
drohte Einfachheit und Ueberſichtlichkeit des Proceſſes, alſo ein
Geſichtspunkt der legislativen Politik, darüber wäre es müßig
zu rechten; genug! der ältere Proceß gibt beiden Gedanken ihr
volles Recht.
Es liegt die Frage nahe, nach welchen Rückſichten die Ver-
theilung des Vertheidigungsmaterials unter die beiden Formen
erfolgt ſein mag, warum der eine Einwand in die einer Negation
oder exceptio, der andere in die einer Gegenklage gebracht worden
iſt. Um dieſe Frage zu beantworten, müßte die Geſchichte uns
tiefere Blicke in die innere Entwickelung des römiſchen Rechts, vor
allem des Condictionenſyſtems verſtattet haben, als ſie es in
Wirklichkeit gethan. Manches iſt dabei unzweifelhaft rein hiſto-
riſch. So z. B. glaube ich, daß der Begriff einer Aufhebung der
Rechte „ipso jure“ und die Zahl der einzelnen Fälle im Laufe der
Zeit in ähnlicher Weiſe etwas Feſtſtehendes und hiſtoriſch Ab-
geſchloſſenes geworden iſt, wie der Begriff und die Zahl der con-
tractus und delicta. Gründe, denen erſt das ſpätere Recht eine
aufhebende Wirkung zugeſtand, wurden daher ſchon darum in die
Form der Klage getrieben, weil ihnen die der Negation (ſ. u.)
verſchloſſen war, die der exceptio aber, ſelbſt wenn ſie damals
bereits exiſtirte, wenigſtens ſolange noch die urſprünglichen An-
ſchauungen nicht ganz abhanden gekommen waren, ungleich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/70>, abgerufen am 24.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.