A. Der Proceß. Processualischer Zersetzungszwang. §. 50.
ihn, das Verschiedenartigste durcheinander zu werfen und wilde Verwirrung zu stiften.
Kann denn der Proceß ihn zum Scheiden zwingen? -- höre ich fragen; wenn es eine solche processualische Scheide-Maschine gäbe, die dem Richter das Zersetzen abnähme oder auch nur er- leichterte, würden wir uns dieselbe entgehen lassen? Vielleicht doch -- -- vielleicht ist uns nur der Preis zu theuer!
Jene Maschine nämlich ist in der That von den Römern er- funden worden und Jahrhunderte lang in Gebrauch gewesen. Sie beruht auf dem oben in unserm Motto von Seneca in Be- zug auf die Gegenforderungen des Beklagten ausgesprochenen Gedanken, daß in je einem Proceß nur über je einen Anspruch verhandelt werden kann, daß also, wo ein Verhältniß mehre Ansprüche in sich schließt, dasselbe in ebenso viele separate Kla- gen und Processe aufgelöst werden muß, als solcher Ansprüche vorhanden sind, nicht aber, wie es in unserm heutigen Recht möglich ist, als solches in seiner Totalität in einem einzigen Proceß zum Gegenstand richterlicher Untersuchung gemacht wer- den kann -- die römische Proceßmaschinerie ist nur auf einfache, nicht auf zusammengesetzte Körper eingerichtet. Das Scheiden erfolgt nicht, wie bei uns, in, sondern außer und vor dem Proceß, nicht durch den Richter, sondern durch den Kläger. Das Zersetzen geschieht durch Aussetzen, das Scheiden durch Ausscheiden. Die Nöthigung zu dieser vorprocessualischen Aus- scheidung liegt im römischen Actionen-System. Keine Sache kann anders vor den Richter gelangen, als in Gestalt einer der vorhandenen Actionen. Letztere aber waren nicht etwa wie die Stipulation, bloße Einkleidungsformen für jeden beliebigen concreten Inhalt, dem sie sich elastisch angeschmiegt hätten, son- dern sie waren starre, unabänderliche Typen, verschieden nach Art und Natur des Anspruchs und nur passend für einen In- halt, der ganz genau die Größe und das Maß hatte -- das eiserne Rüstzeug für das processualische Turnier, das nur dem bequem saß, dem auch nicht ein Zoll fehlte. Eine Klage ohne
A. Der Proceß. Proceſſualiſcher Zerſetzungszwang. §. 50.
ihn, das Verſchiedenartigſte durcheinander zu werfen und wilde Verwirrung zu ſtiften.
Kann denn der Proceß ihn zum Scheiden zwingen? — höre ich fragen; wenn es eine ſolche proceſſualiſche Scheide-Maſchine gäbe, die dem Richter das Zerſetzen abnähme oder auch nur er- leichterte, würden wir uns dieſelbe entgehen laſſen? Vielleicht doch — — vielleicht iſt uns nur der Preis zu theuer!
Jene Maſchine nämlich iſt in der That von den Römern er- funden worden und Jahrhunderte lang in Gebrauch geweſen. Sie beruht auf dem oben in unſerm Motto von Seneca in Be- zug auf die Gegenforderungen des Beklagten ausgeſprochenen Gedanken, daß in je einem Proceß nur über je einen Anſpruch verhandelt werden kann, daß alſo, wo ein Verhältniß mehre Anſprüche in ſich ſchließt, daſſelbe in ebenſo viele ſeparate Kla- gen und Proceſſe aufgelöſt werden muß, als ſolcher Anſprüche vorhanden ſind, nicht aber, wie es in unſerm heutigen Recht möglich iſt, als ſolches in ſeiner Totalität in einem einzigen Proceß zum Gegenſtand richterlicher Unterſuchung gemacht wer- den kann — die römiſche Proceßmaſchinerie iſt nur auf einfache, nicht auf zuſammengeſetzte Körper eingerichtet. Das Scheiden erfolgt nicht, wie bei uns, in, ſondern außer und vor dem Proceß, nicht durch den Richter, ſondern durch den Kläger. Das Zerſetzen geſchieht durch Ausſetzen, das Scheiden durch Ausſcheiden. Die Nöthigung zu dieſer vorproceſſualiſchen Aus- ſcheidung liegt im römiſchen Actionen-Syſtem. Keine Sache kann anders vor den Richter gelangen, als in Geſtalt einer der vorhandenen Actionen. Letztere aber waren nicht etwa wie die Stipulation, bloße Einkleidungsformen für jeden beliebigen concreten Inhalt, dem ſie ſich elaſtiſch angeſchmiegt hätten, ſon- dern ſie waren ſtarre, unabänderliche Typen, verſchieden nach Art und Natur des Anſpruchs und nur paſſend für einen In- halt, der ganz genau die Größe und das Maß hatte — das eiſerne Rüſtzeug für das proceſſualiſche Turnier, das nur dem bequem ſaß, dem auch nicht ein Zoll fehlte. Eine Klage ohne
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A. Der Proceß. Proceſſualiſcher Zerſetzungszwang. §. 50.
ihn, das Verſchiedenartigſte durcheinander zu werfen und wilde
Verwirrung zu ſtiften.
Kann denn der Proceß ihn zum Scheiden zwingen? — höre
ich fragen; wenn es eine ſolche proceſſualiſche Scheide-Maſchine
gäbe, die dem Richter das Zerſetzen abnähme oder auch nur er-
leichterte, würden wir uns dieſelbe entgehen laſſen? Vielleicht
doch — — vielleicht iſt uns nur der Preis zu theuer!
Jene Maſchine nämlich iſt in der That von den Römern er-
funden worden und Jahrhunderte lang in Gebrauch geweſen.
Sie beruht auf dem oben in unſerm Motto von Seneca in Be-
zug auf die Gegenforderungen des Beklagten ausgeſprochenen
Gedanken, daß in je einem Proceß nur über je einen Anſpruch
verhandelt werden kann, daß alſo, wo ein Verhältniß mehre
Anſprüche in ſich ſchließt, daſſelbe in ebenſo viele ſeparate Kla-
gen und Proceſſe aufgelöſt werden muß, als ſolcher Anſprüche
vorhanden ſind, nicht aber, wie es in unſerm heutigen Recht
möglich iſt, als ſolches in ſeiner Totalität in einem einzigen
Proceß zum Gegenſtand richterlicher Unterſuchung gemacht wer-
den kann — die römiſche Proceßmaſchinerie iſt nur auf einfache,
nicht auf zuſammengeſetzte Körper eingerichtet. Das Scheiden
erfolgt nicht, wie bei uns, in, ſondern außer und vor dem
Proceß, nicht durch den Richter, ſondern durch den Kläger.
Das Zerſetzen geſchieht durch Ausſetzen, das Scheiden durch
Ausſcheiden. Die Nöthigung zu dieſer vorproceſſualiſchen Aus-
ſcheidung liegt im römiſchen Actionen-Syſtem. Keine Sache
kann anders vor den Richter gelangen, als in Geſtalt einer
der vorhandenen Actionen. Letztere aber waren nicht etwa wie
die Stipulation, bloße Einkleidungsformen für jeden beliebigen
concreten Inhalt, dem ſie ſich elaſtiſch angeſchmiegt hätten, ſon-
dern ſie waren ſtarre, unabänderliche Typen, verſchieden nach
Art und Natur des Anſpruchs und nur paſſend für einen In-
halt, der ganz genau die Größe und das Maß hatte — das
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/37>, abgerufen am 16.02.2025.
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