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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie.
sessio. Daß weder diese beiden Verhältnisse, noch die oben be-
trachteten an den res publicae und religiosae der Aufnahme
unter die Sachenrechte gewürdigt sind, hat nur darin seinen
Grund, daß man ganz unkritischer Weise den Begriff des Rechts
an der Sache lediglich nach dem Eigenthum und den jura in re
aliena
zuschnitt, gleich als erschöpften sie die rechtlichen Be-
ziehungen des Menschen zur Sache, oder als seien die übrigen,
weil sie hinter ihnen an Rechtsgehalt zurückstehen, nicht eben-
falls rechtlich geschützte Beziehungen zur Sache. Der Besitzer
und bonae fidei possessor, sagt man, weichen dem Eigenthümer.
Gewiß! aber hat nicht letzterer auch dem Pfandgläubiger zu
weichen, und dieser wiederum jenem, wenn derselbe die Schuld
abtragen will? Gehört es zum Begriff des Rechts an der Sache,
daß es keinem andern weicht? Der Besitz ist seiner ursprüng-
lichen Idee nach nichts als das Eigenthum in der Defen-
sive
. Es wäre um das Eigenthum geschehen, wenn der Eigen-
thümer, um sich im Genuß seines Rechts zu schützen, jedes Mal
sein Eigenthum beweisen müßte; die Vollständigkeit des
Eigenthumsschutzes postulirt vielmehr mit absoluter Nothwen-
digkeit den Satz, daß schon die bloße Thatsächlichkeit des
Eigenthums d. i. der Besitz respectirt und geschützt werden müsse.
Die Besitzrechtsmittel repräsentiren die Defensive, die rei vindi-
catio
die Offensive im Eigenthum. Indem aber dieser defen-
sive Schutz des Eigenthums, der nicht minder wie der offensive
innerhalb seiner Sphäre ein absoluter ist d. h. gegen jeden
ertheilt wird, der das Eigenthum von dieser Seite antastet,
von dem Beweis des Eigenthums entbunden wird, ergibt sich
daraus die nothwendige Consequenz, daß auch der besitzende
Nichteigenthümer desselben theilhaftig wird -- um den Eigen-
thümer als Besitzer, mußte man eben den Besitzer schlechthin
schützen. Damit aber gestaltete sich der Besitz zu einem selbstän-
digen Rechtsverhältniß neben und außer dem Eigenthum, also
zu einem Recht an der Sache. Das Charakteristische desselben
läßt sich mit einem Wort bezeichnen als: eine zur Selbstän-

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie.
sessio. Daß weder dieſe beiden Verhältniſſe, noch die oben be-
trachteten an den res publicae und religiosae der Aufnahme
unter die Sachenrechte gewürdigt ſind, hat nur darin ſeinen
Grund, daß man ganz unkritiſcher Weiſe den Begriff des Rechts
an der Sache lediglich nach dem Eigenthum und den jura in re
aliena
zuſchnitt, gleich als erſchöpften ſie die rechtlichen Be-
ziehungen des Menſchen zur Sache, oder als ſeien die übrigen,
weil ſie hinter ihnen an Rechtsgehalt zurückſtehen, nicht eben-
falls rechtlich geſchützte Beziehungen zur Sache. Der Beſitzer
und bonae fidei possessor, ſagt man, weichen dem Eigenthümer.
Gewiß! aber hat nicht letzterer auch dem Pfandgläubiger zu
weichen, und dieſer wiederum jenem, wenn derſelbe die Schuld
abtragen will? Gehört es zum Begriff des Rechts an der Sache,
daß es keinem andern weicht? Der Beſitz iſt ſeiner urſprüng-
lichen Idee nach nichts als das Eigenthum in der Defen-
ſive
. Es wäre um das Eigenthum geſchehen, wenn der Eigen-
thümer, um ſich im Genuß ſeines Rechts zu ſchützen, jedes Mal
ſein Eigenthum beweiſen müßte; die Vollſtändigkeit des
Eigenthumsſchutzes poſtulirt vielmehr mit abſoluter Nothwen-
digkeit den Satz, daß ſchon die bloße Thatſächlichkeit des
Eigenthums d. i. der Beſitz reſpectirt und geſchützt werden müſſe.
Die Beſitzrechtsmittel repräſentiren die Defenſive, die rei vindi-
catio
die Offenſive im Eigenthum. Indem aber dieſer defen-
ſive Schutz des Eigenthums, der nicht minder wie der offenſive
innerhalb ſeiner Sphäre ein abſoluter iſt d. h. gegen jeden
ertheilt wird, der das Eigenthum von dieſer Seite antaſtet,
von dem Beweis des Eigenthums entbunden wird, ergibt ſich
daraus die nothwendige Conſequenz, daß auch der beſitzende
Nichteigenthümer deſſelben theilhaftig wird — um den Eigen-
thümer als Beſitzer, mußte man eben den Beſitzer ſchlechthin
ſchützen. Damit aber geſtaltete ſich der Beſitz zu einem ſelbſtän-
digen Rechtsverhältniß neben und außer dem Eigenthum, alſo
zu einem Recht an der Sache. Das Charakteriſtiſche deſſelben
läßt ſich mit einem Wort bezeichnen als: eine zur Selbſtän-

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[340/0356] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Allgem. Theorie. sessio. Daß weder dieſe beiden Verhältniſſe, noch die oben be- trachteten an den res publicae und religiosae der Aufnahme unter die Sachenrechte gewürdigt ſind, hat nur darin ſeinen Grund, daß man ganz unkritiſcher Weiſe den Begriff des Rechts an der Sache lediglich nach dem Eigenthum und den jura in re aliena zuſchnitt, gleich als erſchöpften ſie die rechtlichen Be- ziehungen des Menſchen zur Sache, oder als ſeien die übrigen, weil ſie hinter ihnen an Rechtsgehalt zurückſtehen, nicht eben- falls rechtlich geſchützte Beziehungen zur Sache. Der Beſitzer und bonae fidei possessor, ſagt man, weichen dem Eigenthümer. Gewiß! aber hat nicht letzterer auch dem Pfandgläubiger zu weichen, und dieſer wiederum jenem, wenn derſelbe die Schuld abtragen will? Gehört es zum Begriff des Rechts an der Sache, daß es keinem andern weicht? Der Beſitz iſt ſeiner urſprüng- lichen Idee nach nichts als das Eigenthum in der Defen- ſive. Es wäre um das Eigenthum geſchehen, wenn der Eigen- thümer, um ſich im Genuß ſeines Rechts zu ſchützen, jedes Mal ſein Eigenthum beweiſen müßte; die Vollſtändigkeit des Eigenthumsſchutzes poſtulirt vielmehr mit abſoluter Nothwen- digkeit den Satz, daß ſchon die bloße Thatſächlichkeit des Eigenthums d. i. der Beſitz reſpectirt und geſchützt werden müſſe. Die Beſitzrechtsmittel repräſentiren die Defenſive, die rei vindi- catio die Offenſive im Eigenthum. Indem aber dieſer defen- ſive Schutz des Eigenthums, der nicht minder wie der offenſive innerhalb ſeiner Sphäre ein abſoluter iſt d. h. gegen jeden ertheilt wird, der das Eigenthum von dieſer Seite antaſtet, von dem Beweis des Eigenthums entbunden wird, ergibt ſich daraus die nothwendige Conſequenz, daß auch der beſitzende Nichteigenthümer deſſelben theilhaftig wird — um den Eigen- thümer als Beſitzer, mußte man eben den Beſitzer ſchlechthin ſchützen. Damit aber geſtaltete ſich der Beſitz zu einem ſelbſtän- digen Rechtsverhältniß neben und außer dem Eigenthum, alſo zu einem Recht an der Sache. Das Charakteriſtiſche deſſelben läßt ſich mit einem Wort bezeichnen als: eine zur Selbſtän-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/356>, abgerufen am 23.11.2024.