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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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I. Substant. Moment des Rechts. -- Interessenmaßstab. §. 60.
fertigten ethischen Interesse, für Scherze, Späße, individuelle
Launen und Liebhabereien bieten sie keinen Raum.

Daß auch in Rom der Interessenmaßstab mit der wirth-
schaftlichen, geistigen und socialen Entwicklung des Volks sich
veränderte, davon legt die Rechtsgeschichte vielfach Zeugniß ab.
Es möge genügen, hier ein Beispiel anzuführen, die übrigen
will ich dem dritten System vorbehalten. Dasselbe betrifft die
Entwicklung des Rechts der Prädialservituten; in ihr prägt sich
der Fortschritt der Interessen in anschaulichster Weise aus. Die-
selbe beginnt mit denjenigen Servituten, welche bereits auf der
niedersten Stufe der Landwirthschaft ein Interesse haben: den
Weg- und Wassergerechtigkeiten. 453) Für sie hatte der altrömi-
sche Bauer ein Verständniß; den Werth einer durch eine servi-
tus ne prospectui officiatur
gesicherten schönen Aussicht dürfte
er schwerlich hoch angeschlagen haben! Der Fortschritt der Land-
wirthschaft und die Veränderung in den Verhältnissen des Wei-
delandes (ager publicus) brachte sodann die übrigen Rustical-
servituten, die Entwicklung des städtischen Lebens, das gedrängte
Wohnen, der Aufschwung der Baukunst, der Luxus und die
Verfeinerung des Geschmacks die Urbanalservituten zum Vor-
schein. 454) Letztere verdanken ihren Ursprung nicht einer Er-
weiterung des juristischen Denkens, des geistigen Blicks, sondern
dem Drang der Interessen und Bedürfnisse, ihre Zulassung war
eine vom Leben der Jurisprudenz abgenöthigte Concession, das

453) Daß sie die ältesten Arten waren, geht daraus hervor, daß sie allein
zu den res mancipi gehören.
454) Dieser allmählige Fortschritt ist in der Art, wie die römischen Ju-
risten sich über einzelne dieser Servituten äußern, noch deutlich zu erkennen,
man vergleiche z. B. L. 7 de Serv. (8. 1) L. 3 de S. P. U. (8. 2) L. 1
§. 1, L. 3 pr., L. 6 §. 1, L. 9 de S. P. R. (8. 3) L. 2 Comm. praed.

(8. 4). Charakteristisch für die Auffassung zu Justinians Zeit ist es, daß in
den Pandekten die Urbanalservituten vor den Rusticalservituten behandelt wer-
den -- zugleich ein schlagender Beleg dafür, wie wenig die Reihenfolge, in
der Justinians Compilatoren gewisse Materien behandeln, mit Hugo zu
Schlüssen auf die historische Priorität berechtigt.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. III. 21

I. Subſtant. Moment des Rechts. — Intereſſenmaßſtab. §. 60.
fertigten ethiſchen Intereſſe, für Scherze, Späße, individuelle
Launen und Liebhabereien bieten ſie keinen Raum.

Daß auch in Rom der Intereſſenmaßſtab mit der wirth-
ſchaftlichen, geiſtigen und ſocialen Entwicklung des Volks ſich
veränderte, davon legt die Rechtsgeſchichte vielfach Zeugniß ab.
Es möge genügen, hier ein Beiſpiel anzuführen, die übrigen
will ich dem dritten Syſtem vorbehalten. Daſſelbe betrifft die
Entwicklung des Rechts der Prädialſervituten; in ihr prägt ſich
der Fortſchritt der Intereſſen in anſchaulichſter Weiſe aus. Die-
ſelbe beginnt mit denjenigen Servituten, welche bereits auf der
niederſten Stufe der Landwirthſchaft ein Intereſſe haben: den
Weg- und Waſſergerechtigkeiten. 453) Für ſie hatte der altrömi-
ſche Bauer ein Verſtändniß; den Werth einer durch eine servi-
tus ne prospectui officiatur
geſicherten ſchönen Ausſicht dürfte
er ſchwerlich hoch angeſchlagen haben! Der Fortſchritt der Land-
wirthſchaft und die Veränderung in den Verhältniſſen des Wei-
delandes (ager publicus) brachte ſodann die übrigen Ruſtical-
ſervituten, die Entwicklung des ſtädtiſchen Lebens, das gedrängte
Wohnen, der Aufſchwung der Baukunſt, der Luxus und die
Verfeinerung des Geſchmacks die Urbanalſervituten zum Vor-
ſchein. 454) Letztere verdanken ihren Urſprung nicht einer Er-
weiterung des juriſtiſchen Denkens, des geiſtigen Blicks, ſondern
dem Drang der Intereſſen und Bedürfniſſe, ihre Zulaſſung war
eine vom Leben der Jurisprudenz abgenöthigte Conceſſion, das

453) Daß ſie die älteſten Arten waren, geht daraus hervor, daß ſie allein
zu den res mancipi gehören.
454) Dieſer allmählige Fortſchritt iſt in der Art, wie die römiſchen Ju-
riſten ſich über einzelne dieſer Servituten äußern, noch deutlich zu erkennen,
man vergleiche z. B. L. 7 de Serv. (8. 1) L. 3 de S. P. U. (8. 2) L. 1
§. 1, L. 3 pr., L. 6 §. 1, L. 9 de S. P. R. (8. 3) L. 2 Comm. praed.

(8. 4). Charakteriſtiſch für die Auffaſſung zu Juſtinians Zeit iſt es, daß in
den Pandekten die Urbanalſervituten vor den Ruſticalſervituten behandelt wer-
den — zugleich ein ſchlagender Beleg dafür, wie wenig die Reihenfolge, in
der Juſtinians Compilatoren gewiſſe Materien behandeln, mit Hugo zu
Schlüſſen auf die hiſtoriſche Priorität berechtigt.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 21
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[321/0337] I. Subſtant. Moment des Rechts. — Intereſſenmaßſtab. §. 60. fertigten ethiſchen Intereſſe, für Scherze, Späße, individuelle Launen und Liebhabereien bieten ſie keinen Raum. Daß auch in Rom der Intereſſenmaßſtab mit der wirth- ſchaftlichen, geiſtigen und ſocialen Entwicklung des Volks ſich veränderte, davon legt die Rechtsgeſchichte vielfach Zeugniß ab. Es möge genügen, hier ein Beiſpiel anzuführen, die übrigen will ich dem dritten Syſtem vorbehalten. Daſſelbe betrifft die Entwicklung des Rechts der Prädialſervituten; in ihr prägt ſich der Fortſchritt der Intereſſen in anſchaulichſter Weiſe aus. Die- ſelbe beginnt mit denjenigen Servituten, welche bereits auf der niederſten Stufe der Landwirthſchaft ein Intereſſe haben: den Weg- und Waſſergerechtigkeiten. 453) Für ſie hatte der altrömi- ſche Bauer ein Verſtändniß; den Werth einer durch eine servi- tus ne prospectui officiatur geſicherten ſchönen Ausſicht dürfte er ſchwerlich hoch angeſchlagen haben! Der Fortſchritt der Land- wirthſchaft und die Veränderung in den Verhältniſſen des Wei- delandes (ager publicus) brachte ſodann die übrigen Ruſtical- ſervituten, die Entwicklung des ſtädtiſchen Lebens, das gedrängte Wohnen, der Aufſchwung der Baukunſt, der Luxus und die Verfeinerung des Geſchmacks die Urbanalſervituten zum Vor- ſchein. 454) Letztere verdanken ihren Urſprung nicht einer Er- weiterung des juriſtiſchen Denkens, des geiſtigen Blicks, ſondern dem Drang der Intereſſen und Bedürfniſſe, ihre Zulaſſung war eine vom Leben der Jurisprudenz abgenöthigte Conceſſion, das 453) Daß ſie die älteſten Arten waren, geht daraus hervor, daß ſie allein zu den res mancipi gehören. 454) Dieſer allmählige Fortſchritt iſt in der Art, wie die römiſchen Ju- riſten ſich über einzelne dieſer Servituten äußern, noch deutlich zu erkennen, man vergleiche z. B. L. 7 de Serv. (8. 1) L. 3 de S. P. U. (8. 2) L. 1 §. 1, L. 3 pr., L. 6 §. 1, L. 9 de S. P. R. (8. 3) L. 2 Comm. praed. (8. 4). Charakteriſtiſch für die Auffaſſung zu Juſtinians Zeit iſt es, daß in den Pandekten die Urbanalſervituten vor den Ruſticalſervituten behandelt wer- den — zugleich ein ſchlagender Beleg dafür, wie wenig die Reihenfolge, in der Juſtinians Compilatoren gewiſſe Materien behandeln, mit Hugo zu Schlüſſen auf die hiſtoriſche Priorität berechtigt. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 21

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/337>, abgerufen am 22.11.2024.