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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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I. Substant. Moment des Rechts. -- Willensformalismus. §. 60.

Liegt der Endzweck des Rechts im Wollen, so müssen alle
Vereinbarungen, welche nichts Unsittliches oder Unerlaubtes
enthalten, rechtlich verbindende Kraft haben, und in der That
ist ja das Dogma von der abstract verpflichtenden Kraft der Ver-
träge von Juristen und Rechtsphilosophen oft genug aufgestellt.
Ein Vertrag also, der dem einen Theil eine Beschränkung auf-
erlegt, ohne dem andern den geringsten Nutzen zu gewähren,
z. B. der, daß er sein Grundstück nicht veräußern, daß er einen
gewissen Beruf nicht ergreifen dürfe, würde demgemäß vollkom-
men gültig sein. Daran würde selbst der Umstand, daß der
Promissar nicht das leiseste Interesse an der Innehaltung des
Vertrages anzugeben vermöchte, nicht das Geringste ändern.
Wozu ein solches Interesse? Der Zweck des Rechts besteht
ja einmal in der Willensmacht, der Herrschaft, und eine Herr-
schaft über den fremden Willen übe ich aus, wenn ich ihn zu
Unterlassungen und Handlungen zwingen darf, einerlei ob die-
selben ein Interesse für mich haben oder nicht -- jener spiri-
tualistische Rechtsgenuß, bei dem die Willenstheorie es bewen-
den läßt: die Freude an der reinen Macht als solcher, die Sa-
tisfaction, seinen Willen durchzusetzen, wird in beiden Fällen in
gleicher Weise gewährt.

Wohin dies im Verkehr führen muß, leuchtet ein. Unge-
hemmt und unbeschränkt kann die Saat der Unfreiheit ausge-
streut werden, kann das Unkraut drückender, für den Verkehr
wie für das berechtigte Individuum völlig werthloser Beschrän-
kungen wuchern; unter der falschen Freiheit geht die wahre zu
Grunde, und der Wille gräbt sich sein eigenes Grab. Ein sol-
cher Willensformalismus, der im Mittelalter in dem Princip

täre), derentwegen die juristische Persönlichkeit allein ins Leben gerufen ist,
übersieht und diese Willensmaschinerie zum Subject der Rechte erhebt, wurzelt
lediglich in dem obigen Willensformalismus. Wer sich über die Bedeutung
des Verhältnisses der Frage: durch wen? und für wen? klar ist, wird es
auch über die Bedeutung der juristischen Person sein. Ich werde im §. 61
darauf zurückkommen.
I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60.

Liegt der Endzweck des Rechts im Wollen, ſo müſſen alle
Vereinbarungen, welche nichts Unſittliches oder Unerlaubtes
enthalten, rechtlich verbindende Kraft haben, und in der That
iſt ja das Dogma von der abſtract verpflichtenden Kraft der Ver-
träge von Juriſten und Rechtsphiloſophen oft genug aufgeſtellt.
Ein Vertrag alſo, der dem einen Theil eine Beſchränkung auf-
erlegt, ohne dem andern den geringſten Nutzen zu gewähren,
z. B. der, daß er ſein Grundſtück nicht veräußern, daß er einen
gewiſſen Beruf nicht ergreifen dürfe, würde demgemäß vollkom-
men gültig ſein. Daran würde ſelbſt der Umſtand, daß der
Promiſſar nicht das leiſeſte Intereſſe an der Innehaltung des
Vertrages anzugeben vermöchte, nicht das Geringſte ändern.
Wozu ein ſolches Intereſſe? Der Zweck des Rechts beſteht
ja einmal in der Willensmacht, der Herrſchaft, und eine Herr-
ſchaft über den fremden Willen übe ich aus, wenn ich ihn zu
Unterlaſſungen und Handlungen zwingen darf, einerlei ob die-
ſelben ein Intereſſe für mich haben oder nicht — jener ſpiri-
tualiſtiſche Rechtsgenuß, bei dem die Willenstheorie es bewen-
den läßt: die Freude an der reinen Macht als ſolcher, die Sa-
tisfaction, ſeinen Willen durchzuſetzen, wird in beiden Fällen in
gleicher Weiſe gewährt.

Wohin dies im Verkehr führen muß, leuchtet ein. Unge-
hemmt und unbeſchränkt kann die Saat der Unfreiheit ausge-
ſtreut werden, kann das Unkraut drückender, für den Verkehr
wie für das berechtigte Individuum völlig werthloſer Beſchrän-
kungen wuchern; unter der falſchen Freiheit geht die wahre zu
Grunde, und der Wille gräbt ſich ſein eigenes Grab. Ein ſol-
cher Willensformalismus, der im Mittelalter in dem Princip

täre), derentwegen die juriſtiſche Perſönlichkeit allein ins Leben gerufen iſt,
überſieht und dieſe Willensmaſchinerie zum Subject der Rechte erhebt, wurzelt
lediglich in dem obigen Willensformalismus. Wer ſich über die Bedeutung
des Verhältniſſes der Frage: durch wen? und für wen? klar iſt, wird es
auch über die Bedeutung der juriſtiſchen Perſon ſein. Ich werde im §. 61
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[315/0331] I. Subſtant. Moment des Rechts. — Willensformalismus. §. 60. Liegt der Endzweck des Rechts im Wollen, ſo müſſen alle Vereinbarungen, welche nichts Unſittliches oder Unerlaubtes enthalten, rechtlich verbindende Kraft haben, und in der That iſt ja das Dogma von der abſtract verpflichtenden Kraft der Ver- träge von Juriſten und Rechtsphiloſophen oft genug aufgeſtellt. Ein Vertrag alſo, der dem einen Theil eine Beſchränkung auf- erlegt, ohne dem andern den geringſten Nutzen zu gewähren, z. B. der, daß er ſein Grundſtück nicht veräußern, daß er einen gewiſſen Beruf nicht ergreifen dürfe, würde demgemäß vollkom- men gültig ſein. Daran würde ſelbſt der Umſtand, daß der Promiſſar nicht das leiſeſte Intereſſe an der Innehaltung des Vertrages anzugeben vermöchte, nicht das Geringſte ändern. Wozu ein ſolches Intereſſe? Der Zweck des Rechts beſteht ja einmal in der Willensmacht, der Herrſchaft, und eine Herr- ſchaft über den fremden Willen übe ich aus, wenn ich ihn zu Unterlaſſungen und Handlungen zwingen darf, einerlei ob die- ſelben ein Intereſſe für mich haben oder nicht — jener ſpiri- tualiſtiſche Rechtsgenuß, bei dem die Willenstheorie es bewen- den läßt: die Freude an der reinen Macht als ſolcher, die Sa- tisfaction, ſeinen Willen durchzuſetzen, wird in beiden Fällen in gleicher Weiſe gewährt. Wohin dies im Verkehr führen muß, leuchtet ein. Unge- hemmt und unbeſchränkt kann die Saat der Unfreiheit ausge- ſtreut werden, kann das Unkraut drückender, für den Verkehr wie für das berechtigte Individuum völlig werthloſer Beſchrän- kungen wuchern; unter der falſchen Freiheit geht die wahre zu Grunde, und der Wille gräbt ſich ſein eigenes Grab. Ein ſol- cher Willensformalismus, der im Mittelalter in dem Princip 442) 442) täre), derentwegen die juriſtiſche Perſönlichkeit allein ins Leben gerufen iſt, überſieht und dieſe Willensmaſchinerie zum Subject der Rechte erhebt, wurzelt lediglich in dem obigen Willensformalismus. Wer ſich über die Bedeutung des Verhältniſſes der Frage: durch wen? und für wen? klar iſt, wird es auch über die Bedeutung der juriſtiſchen Perſon ſein. Ich werde im §. 61 darauf zurückkommen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/331>, abgerufen am 23.11.2024.