Die Aufgabe -- historischer Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59.
Was aber in die Zeit fällt, nachdem es entstanden, ist auch in die Zeit gefallen, als es entstand, m. a. W. dieselben histo- rischen Einflüsse, denen jene Grundbegriffe im Fortgang ihrer Geschichte ausgesetzt gewesen sind, werden sich bereits bei ihrer ursprünglichen Bildung thätig erwiesen haben. Der Historiker würde ihnen gegenüber seine Aufgabe verfehlen, wollte er sich einfach dabei beruhigen, daß sie gegebene Thatsachen des römi- schen Lebens seien, deren Ursprung in undurchdringliches Dunkel gehüllt sei, unmittelbare Offenbarungen, an denen das mensch- liche Denken und Wollen keinen Antheil.gehabt hätte, Producte einer geheimnißvoll schaffenden Naturkraft. Eine solche Auf- fassung, so gern sie sich den Schein der ehrfurchtsvollen Scheu vor dem "was die Geschichte bedeckt mit Nacht und Grauen" zu geben versucht, entwürdigt den Menschen und erniedrigt das Recht. Denn das Recht ist keine Pflanze, sondern ein Stück menschlichen Denkens und Empfindens; zu den Aufzeichnungen, die es enthält, müssen das menschliche Herz und der denkende Verstand den Schlüssel liefern. Vermögen uns also jene Grund- begriffe auf die Frage nach dem: Woher und Warum? keine befriedigende Antwort zu geben, so ist all' ihr Ansehen nur ein erschlichenes, so sind sie für uns statt eines freien Besitzthums äußerlich aufgezwungene Ketten, die dadurch, daß sie ein noch so hohes Alter für sich aufzuweisen vermögen, um Nichts von dieser Eigenschaft verlieren -- man beherrscht bloß das, was man versteht.
Der gegenwärtige Abschnitt soll nun den Versuch machen, die alten Rechtsbegriffe, so zu sagen, zum Sprechen zu bringen, indem er sie künstlich wiederum in Fluß versetzt, indem er sie zurückführt auf die Ursubstanz von Ideen, Anschauungen, Er- wägungen, aus denen sie hervorgegangen, die Gesetze ermittelt, nach denen sie sich zu festen Formen zusammengefügt, kurz er soll sie gewissermaßen ihren Krystallisationsproceß von neuem vor unsern Augen bestehen lassen. Ob diese Aufgabe mehr verwe- gen, als lösbar, darüber will ich Jedem seine Zweifel zu gute
Die Aufgabe — hiſtoriſcher Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59.
Was aber in die Zeit fällt, nachdem es entſtanden, iſt auch in die Zeit gefallen, als es entſtand, m. a. W. dieſelben hiſto- riſchen Einflüſſe, denen jene Grundbegriffe im Fortgang ihrer Geſchichte ausgeſetzt geweſen ſind, werden ſich bereits bei ihrer urſprünglichen Bildung thätig erwieſen haben. Der Hiſtoriker würde ihnen gegenüber ſeine Aufgabe verfehlen, wollte er ſich einfach dabei beruhigen, daß ſie gegebene Thatſachen des römi- ſchen Lebens ſeien, deren Urſprung in undurchdringliches Dunkel gehüllt ſei, unmittelbare Offenbarungen, an denen das menſch- liche Denken und Wollen keinen Antheil.gehabt hätte, Producte einer geheimnißvoll ſchaffenden Naturkraft. Eine ſolche Auf- faſſung, ſo gern ſie ſich den Schein der ehrfurchtsvollen Scheu vor dem „was die Geſchichte bedeckt mit Nacht und Grauen“ zu geben verſucht, entwürdigt den Menſchen und erniedrigt das Recht. Denn das Recht iſt keine Pflanze, ſondern ein Stück menſchlichen Denkens und Empfindens; zu den Aufzeichnungen, die es enthält, müſſen das menſchliche Herz und der denkende Verſtand den Schlüſſel liefern. Vermögen uns alſo jene Grund- begriffe auf die Frage nach dem: Woher und Warum? keine befriedigende Antwort zu geben, ſo iſt all’ ihr Anſehen nur ein erſchlichenes, ſo ſind ſie für uns ſtatt eines freien Beſitzthums äußerlich aufgezwungene Ketten, die dadurch, daß ſie ein noch ſo hohes Alter für ſich aufzuweiſen vermögen, um Nichts von dieſer Eigenſchaft verlieren — man beherrſcht bloß das, was man verſteht.
Der gegenwärtige Abſchnitt ſoll nun den Verſuch machen, die alten Rechtsbegriffe, ſo zu ſagen, zum Sprechen zu bringen, indem er ſie künſtlich wiederum in Fluß verſetzt, indem er ſie zurückführt auf die Urſubſtanz von Ideen, Anſchauungen, Er- wägungen, aus denen ſie hervorgegangen, die Geſetze ermittelt, nach denen ſie ſich zu feſten Formen zuſammengefügt, kurz er ſoll ſie gewiſſermaßen ihren Kryſtalliſationsproceß von neuem vor unſern Augen beſtehen laſſen. Ob dieſe Aufgabe mehr verwe- gen, als lösbar, darüber will ich Jedem ſeine Zweifel zu gute
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Die Aufgabe — hiſtoriſcher Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59.
Was aber in die Zeit fällt, nachdem es entſtanden, iſt auch
in die Zeit gefallen, als es entſtand, m. a. W. dieſelben hiſto-
riſchen Einflüſſe, denen jene Grundbegriffe im Fortgang ihrer
Geſchichte ausgeſetzt geweſen ſind, werden ſich bereits bei ihrer
urſprünglichen Bildung thätig erwieſen haben. Der Hiſtoriker
würde ihnen gegenüber ſeine Aufgabe verfehlen, wollte er ſich
einfach dabei beruhigen, daß ſie gegebene Thatſachen des römi-
ſchen Lebens ſeien, deren Urſprung in undurchdringliches Dunkel
gehüllt ſei, unmittelbare Offenbarungen, an denen das menſch-
liche Denken und Wollen keinen Antheil.gehabt hätte, Producte
einer geheimnißvoll ſchaffenden Naturkraft. Eine ſolche Auf-
faſſung, ſo gern ſie ſich den Schein der ehrfurchtsvollen Scheu
vor dem „was die Geſchichte bedeckt mit Nacht und Grauen“ zu
geben verſucht, entwürdigt den Menſchen und erniedrigt das
Recht. Denn das Recht iſt keine Pflanze, ſondern ein Stück
menſchlichen Denkens und Empfindens; zu den Aufzeichnungen,
die es enthält, müſſen das menſchliche Herz und der denkende
Verſtand den Schlüſſel liefern. Vermögen uns alſo jene Grund-
begriffe auf die Frage nach dem: Woher und Warum? keine
befriedigende Antwort zu geben, ſo iſt all’ ihr Anſehen nur ein
erſchlichenes, ſo ſind ſie für uns ſtatt eines freien Beſitzthums
äußerlich aufgezwungene Ketten, die dadurch, daß ſie ein noch
ſo hohes Alter für ſich aufzuweiſen vermögen, um Nichts von
dieſer Eigenſchaft verlieren — man beherrſcht bloß das, was
man verſteht.
Der gegenwärtige Abſchnitt ſoll nun den Verſuch machen,
die alten Rechtsbegriffe, ſo zu ſagen, zum Sprechen zu bringen,
indem er ſie künſtlich wiederum in Fluß verſetzt, indem er ſie
zurückführt auf die Urſubſtanz von Ideen, Anſchauungen, Er-
wägungen, aus denen ſie hervorgegangen, die Geſetze ermittelt,
nach denen ſie ſich zu feſten Formen zuſammengefügt, kurz er ſoll
ſie gewiſſermaßen ihren Kryſtalliſationsproceß von neuem vor
unſern Augen beſtehen laſſen. Ob dieſe Aufgabe mehr verwe-
gen, als lösbar, darüber will ich Jedem ſeine Zweifel zu gute
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/313>, abgerufen am 22.07.2024.
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