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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Die Aufgabe -- historischer Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59.
Einführung der Dativtutel (tutor Atilianus) ohne alles und
jedes begriffliche Interesse, dagegen bezeichnet das Umschlagen
der Tutel aus einem persönlichen Gewaltverhältniß ("jus ac
potestas in capite libero"
) in ein Obligationsverhältniß einen
begrifflichen Entwicklungsmoment, dem keine von allen Verän-
derungen, die mit diesem Institut vor sich gegangen, sich an die
Seite stellen läßt. Am lehrreichsten in dieser Beziehung ist das
Erbrecht. Alle Umgestaltungen, denen die römische Testaments-
form im Lauf der Zeit unterlag, namentlich die Verdrängung
des Comitialtestaments durch das Mancipationstestament, die
Einführung der schriftlichen d. i. geheimen Errichtungsform neben
der früheren ausschließlich mündlichen, sowie der privilegir-
ten Testamentsformen gaben der Testirfreiheit eine nicht hoch
genug anzuschlagende Erweiterung, aber an dem Begriff des
Testaments426) änderten sie nicht das Geringste; letzteres blieb,
was es von jeher gewesen: eine einseitige Verfügung des
Erblassers über die Erbschaft. Das Codicill dagegen und der
Erbvertrag des heutigen Rechts haben eine begriffliche Aende-
rung der wesentlichsten Art vorgenommen, ersteres, indem es
den bis dahin unbekannten Begriff des erbrechtlichen Singu-
largeschäfts
(S. 140), letzteres, indem es den Vertrag
ins Erbrecht einführte. Von den XII Tafeln bis auf Justinian
ist das Intestaterbrecht in seinen ganzen Grundlagen umgestaltet
worden, aber ich möchte wissen, ob die Definition desselben auch
nur um ein Wörtchen anders gefaßt werden müßte, als in
ältester Zeit; der Begriff der Intestaterbfolge ist ganz der alte
geblieben. Dagegen hat Justinian durch seine Verordnung über

426) Vorausgesetzt nämlich, daß man rücksichtlich des Comitialtesta-
ments die gewöhnliche Anficht theilt, der zufolge das Volk dabei nicht abzu-
stimmen, sondern einfach als Zeuge zu fungiren hatte. Wer mit mir das Ge-
gentheil annimmt, wird in dem Uebergang zum Mancipationstestament eine
höchst wesentliche Begriffsalteration des Testaments erblicken müssen -- den
Umschlag des von der Befolgung der Intestaterbfolge im einzelnen Fall dis-
pensirenden Gesetzes in ein gewöhnliches Rechtsgeschäft.

Die Aufgabe — hiſtoriſcher Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59.
Einführung der Dativtutel (tutor Atilianus) ohne alles und
jedes begriffliche Intereſſe, dagegen bezeichnet das Umſchlagen
der Tutel aus einem perſönlichen Gewaltverhältniß („jus ac
potestas in capite libero“
) in ein Obligationsverhältniß einen
begrifflichen Entwicklungsmoment, dem keine von allen Verän-
derungen, die mit dieſem Inſtitut vor ſich gegangen, ſich an die
Seite ſtellen läßt. Am lehrreichſten in dieſer Beziehung iſt das
Erbrecht. Alle Umgeſtaltungen, denen die römiſche Teſtaments-
form im Lauf der Zeit unterlag, namentlich die Verdrängung
des Comitialteſtaments durch das Mancipationsteſtament, die
Einführung der ſchriftlichen d. i. geheimen Errichtungsform neben
der früheren ausſchließlich mündlichen, ſowie der privilegir-
ten Teſtamentsformen gaben der Teſtirfreiheit eine nicht hoch
genug anzuſchlagende Erweiterung, aber an dem Begriff des
Teſtaments426) änderten ſie nicht das Geringſte; letzteres blieb,
was es von jeher geweſen: eine einſeitige Verfügung des
Erblaſſers über die Erbſchaft. Das Codicill dagegen und der
Erbvertrag des heutigen Rechts haben eine begriffliche Aende-
rung der weſentlichſten Art vorgenommen, erſteres, indem es
den bis dahin unbekannten Begriff des erbrechtlichen Singu-
largeſchäfts
(S. 140), letzteres, indem es den Vertrag
ins Erbrecht einführte. Von den XII Tafeln bis auf Juſtinian
iſt das Inteſtaterbrecht in ſeinen ganzen Grundlagen umgeſtaltet
worden, aber ich möchte wiſſen, ob die Definition deſſelben auch
nur um ein Wörtchen anders gefaßt werden müßte, als in
älteſter Zeit; der Begriff der Inteſtaterbfolge iſt ganz der alte
geblieben. Dagegen hat Juſtinian durch ſeine Verordnung über

426) Vorausgeſetzt nämlich, daß man rückſichtlich des Comitialteſta-
ments die gewöhnliche Anficht theilt, der zufolge das Volk dabei nicht abzu-
ſtimmen, ſondern einfach als Zeuge zu fungiren hatte. Wer mit mir das Ge-
gentheil annimmt, wird in dem Uebergang zum Mancipationsteſtament eine
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[295/0311] Die Aufgabe — hiſtoriſcher Charakter der Rechtsbegriffe. §. 59. Einführung der Dativtutel (tutor Atilianus) ohne alles und jedes begriffliche Intereſſe, dagegen bezeichnet das Umſchlagen der Tutel aus einem perſönlichen Gewaltverhältniß („jus ac potestas in capite libero“) in ein Obligationsverhältniß einen begrifflichen Entwicklungsmoment, dem keine von allen Verän- derungen, die mit dieſem Inſtitut vor ſich gegangen, ſich an die Seite ſtellen läßt. Am lehrreichſten in dieſer Beziehung iſt das Erbrecht. Alle Umgeſtaltungen, denen die römiſche Teſtaments- form im Lauf der Zeit unterlag, namentlich die Verdrängung des Comitialteſtaments durch das Mancipationsteſtament, die Einführung der ſchriftlichen d. i. geheimen Errichtungsform neben der früheren ausſchließlich mündlichen, ſowie der privilegir- ten Teſtamentsformen gaben der Teſtirfreiheit eine nicht hoch genug anzuſchlagende Erweiterung, aber an dem Begriff des Teſtaments 426) änderten ſie nicht das Geringſte; letzteres blieb, was es von jeher geweſen: eine einſeitige Verfügung des Erblaſſers über die Erbſchaft. Das Codicill dagegen und der Erbvertrag des heutigen Rechts haben eine begriffliche Aende- rung der weſentlichſten Art vorgenommen, erſteres, indem es den bis dahin unbekannten Begriff des erbrechtlichen Singu- largeſchäfts (S. 140), letzteres, indem es den Vertrag ins Erbrecht einführte. Von den XII Tafeln bis auf Juſtinian iſt das Inteſtaterbrecht in ſeinen ganzen Grundlagen umgeſtaltet worden, aber ich möchte wiſſen, ob die Definition deſſelben auch nur um ein Wörtchen anders gefaßt werden müßte, als in älteſter Zeit; der Begriff der Inteſtaterbfolge iſt ganz der alte geblieben. Dagegen hat Juſtinian durch ſeine Verordnung über 426) Vorausgeſetzt nämlich, daß man rückſichtlich des Comitialteſta- ments die gewöhnliche Anficht theilt, der zufolge das Volk dabei nicht abzu- ſtimmen, ſondern einfach als Zeuge zu fungiren hatte. Wer mit mir das Ge- gentheil annimmt, wird in dem Uebergang zum Mancipationsteſtament eine höchſt weſentliche Begriffsalteration des Teſtaments erblicken müſſen — den Umſchlag des von der Befolgung der Inteſtaterbfolge im einzelnen Fall dis- penſirenden Geſetzes in ein gewöhnliches Rechtsgeſchäft.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/311>, abgerufen am 25.11.2024.