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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. B. Die juristische Oekonomie.
selten bilden sie den Inhalt eines besondern Privilegiums,422)
-- eine technische Bedeutung können sie nicht in Anspruch
nehmen.

Für das zweite Verhältniß ist der Ausdruck: Fictionen all-
gemein eingebürgert, und ich will dem Sprachgebrauch nicht
entgegentreten, es genügt mir, die Verschiedenheit desselben von
der oben geschilderten Function der Fiction zu constatiren. Die
Existenz der juristischen Person, so lehrt man, beruht nicht auf
natürlichem Dasein, sondern auf Fiction. Und in der That
richtet diese Fiction an unsere Vorstellung ganz dieselbe Auf-
forderung, wie die obigen: sich nämlich das thatsächliche Ver-
hältniß anders zu denken, als es wirklich ist, statt der einzelnen
Mitglieder der Zunft sich ein gedachtes Wesen: die Zunft, als
Subject vorzustellen. Aber der Zweck der Fiction ist hier nicht
Erleichterung der Anknüpfung eines neuen Rechtssatzes an das
bisherige Recht, sondern Erleichterung der juristischen Vor-
stellung. Die Betrachtung dieser dogmatischen Function der
Fiction liegt außerhalb der Gränzen unserer gegenwärtigen Auf-
gabe, sie hatte lediglich das negative Interesse für uns, den
störenden Einfluß, den sie auf die richtige Erfassung der obigen
historischen Function derselben ausüben konnte, fern zu
halten.

Kehren wir zu letzterer zurück. Die Fiction in diesem
Sinn ist ein Seitenstück zum Scheingeschäft, nicht selten sogar,
um einen frühern (B. 2 S. 408) Ausdruck zu wiederholen, das

auch von einer Fiction sprechen, wenn ein Miether die Wohnung "zu den-
selben Bedingungen, wie sein Vorgänger" miethet -- es ist eine Erleichterung
für den Abschreiber, nichts weiter.
422) So in Rom z. B. das jus liberorum, welches die kinderlose Frau
in Bezug auf die Capacitätsbestimmungen der Frau mit Kindern gleichstellte,
die restitutio natalium, welche dem Freigelassenen die Stellung des Frei-
gebornen einräumte. Ob dabei die Wendung gebraucht wird, "ebenso,
als ob
sie Kinder hätte, als ob er freigeboren wäre" (L. 5 §. 1 de nat.
rest.
40. 11), verschlägt Nichts.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie.
ſelten bilden ſie den Inhalt eines beſondern Privilegiums,422)
— eine techniſche Bedeutung können ſie nicht in Anſpruch
nehmen.

Für das zweite Verhältniß iſt der Ausdruck: Fictionen all-
gemein eingebürgert, und ich will dem Sprachgebrauch nicht
entgegentreten, es genügt mir, die Verſchiedenheit deſſelben von
der oben geſchilderten Function der Fiction zu conſtatiren. Die
Exiſtenz der juriſtiſchen Perſon, ſo lehrt man, beruht nicht auf
natürlichem Daſein, ſondern auf Fiction. Und in der That
richtet dieſe Fiction an unſere Vorſtellung ganz dieſelbe Auf-
forderung, wie die obigen: ſich nämlich das thatſächliche Ver-
hältniß anders zu denken, als es wirklich iſt, ſtatt der einzelnen
Mitglieder der Zunft ſich ein gedachtes Weſen: die Zunft, als
Subject vorzuſtellen. Aber der Zweck der Fiction iſt hier nicht
Erleichterung der Anknüpfung eines neuen Rechtsſatzes an das
bisherige Recht, ſondern Erleichterung der juriſtiſchen Vor-
ſtellung. Die Betrachtung dieſer dogmatiſchen Function der
Fiction liegt außerhalb der Gränzen unſerer gegenwärtigen Auf-
gabe, ſie hatte lediglich das negative Intereſſe für uns, den
ſtörenden Einfluß, den ſie auf die richtige Erfaſſung der obigen
hiſtoriſchen Function derſelben ausüben konnte, fern zu
halten.

Kehren wir zu letzterer zurück. Die Fiction in dieſem
Sinn iſt ein Seitenſtück zum Scheingeſchäft, nicht ſelten ſogar,
um einen frühern (B. 2 S. 408) Ausdruck zu wiederholen, das

auch von einer Fiction ſprechen, wenn ein Miether die Wohnung „zu den-
ſelben Bedingungen, wie ſein Vorgänger“ miethet — es iſt eine Erleichterung
für den Abſchreiber, nichts weiter.
422) So in Rom z. B. das jus liberorum, welches die kinderloſe Frau
in Bezug auf die Capacitätsbeſtimmungen der Frau mit Kindern gleichſtellte,
die restitutio natalium, welche dem Freigelaſſenen die Stellung des Frei-
gebornen einräumte. Ob dabei die Wendung gebraucht wird, „ebenſo,
als ob
ſie Kinder hätte, als ob er freigeboren wäre“ (L. 5 §. 1 de nat.
rest.
40. 11), verſchlägt Nichts.
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[290/0306] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie. ſelten bilden ſie den Inhalt eines beſondern Privilegiums, 422) — eine techniſche Bedeutung können ſie nicht in Anſpruch nehmen. Für das zweite Verhältniß iſt der Ausdruck: Fictionen all- gemein eingebürgert, und ich will dem Sprachgebrauch nicht entgegentreten, es genügt mir, die Verſchiedenheit deſſelben von der oben geſchilderten Function der Fiction zu conſtatiren. Die Exiſtenz der juriſtiſchen Perſon, ſo lehrt man, beruht nicht auf natürlichem Daſein, ſondern auf Fiction. Und in der That richtet dieſe Fiction an unſere Vorſtellung ganz dieſelbe Auf- forderung, wie die obigen: ſich nämlich das thatſächliche Ver- hältniß anders zu denken, als es wirklich iſt, ſtatt der einzelnen Mitglieder der Zunft ſich ein gedachtes Weſen: die Zunft, als Subject vorzuſtellen. Aber der Zweck der Fiction iſt hier nicht Erleichterung der Anknüpfung eines neuen Rechtsſatzes an das bisherige Recht, ſondern Erleichterung der juriſtiſchen Vor- ſtellung. Die Betrachtung dieſer dogmatiſchen Function der Fiction liegt außerhalb der Gränzen unſerer gegenwärtigen Auf- gabe, ſie hatte lediglich das negative Intereſſe für uns, den ſtörenden Einfluß, den ſie auf die richtige Erfaſſung der obigen hiſtoriſchen Function derſelben ausüben konnte, fern zu halten. Kehren wir zu letzterer zurück. Die Fiction in dieſem Sinn iſt ein Seitenſtück zum Scheingeſchäft, nicht ſelten ſogar, um einen frühern (B. 2 S. 408) Ausdruck zu wiederholen, das 421) 422) So in Rom z. B. das jus liberorum, welches die kinderloſe Frau in Bezug auf die Capacitätsbeſtimmungen der Frau mit Kindern gleichſtellte, die restitutio natalium, welche dem Freigelaſſenen die Stellung des Frei- gebornen einräumte. Ob dabei die Wendung gebraucht wird, „ebenſo, als ob ſie Kinder hätte, als ob er freigeboren wäre“ (L. 5 §. 1 de nat. rest. 40. 11), verſchlägt Nichts. 421) auch von einer Fiction ſprechen, wenn ein Miether die Wohnung „zu den- ſelben Bedingungen, wie ſein Vorgänger“ miethet — es iſt eine Erleichterung für den Abſchreiber, nichts weiter.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/306>, abgerufen am 25.11.2024.