in derselben Weise ab, wie der Prätor den des Richters: sie seien zwar keine, aber rücksichtlich der Klagbefugniß gölten sie als solche.
"Das Testament ist der letzte Wille eines römischen Bürgers; wem diese Eigenschaft im Moment des Todes abgeht, der kann kein gültiges Testament hinterlassen." Das war der Satz des alten Rechts; eine Consequenz davon, daß das Testament eines Bür- gers, der in feindlicher Gefangenschaft starb, keine Gültigkeit hatte. Die lex Cornelia sah sich veranlaßt, diese Consequenz rücksichtlich der vor der Gefangenschaft errichteten Testamente aufzuheben. Sie hätte es thun können in der Weise, wie wir heutzutage es thun würden, indem sie diese Neuerung offen aus- sprach, und sie würde es vielleicht auch gethan haben, wenn nicht Juristen mit im Rath gesessen und das Interesse ihrer Disciplin dadurch gewahrt hätten, daß sie eine Wendung ersannen, die den obigen Fundamentalsatz äußerlich bestehen ließ: die bekannte fictio legis Corneliae. Das Gesetz sprach aus: es solle so an- gesehen werden, als ob der Testator bereits im Moment seiner Gefangennehmung, also noch als Freier und römischer Bürger verstorben wäre.419)
Diese beiden Beispiele werden als Anhaltspunkte zur Ver- anschaulichung des eigenthümlichen Mechanismus und der tech- nischen Bestimmung der Fiction genügen.
Der Zweck der Fiction besteht in der Erleichterung der Schwierigkeiten, die mit der Aufnahme und Verarbeitung neuer, mehr oder weniger einschneidender Rechtssätze verbunden sind, in der Ermöglichung, die traditionelle Lehre formell ganz in ihrer alten Gestalt zu belassen, ohne doch dem Neuen praktisch seine volle Wirksamkeit dadurch irgendwie zu verkümmern. Indem sie die Schwierigkeiten umgeht, statt sie zu lösen, charakterisirt sie sich damit allerdings als eine wissenschaftlich unvollkommene Form der Lösung der Aufgabe -- sie verdient denselben Namen,
419)L. 18, 22 de capt. (49. 15).
Die künſtlichen Mittel. §. 58.
in derſelben Weiſe ab, wie der Prätor den des Richters: ſie ſeien zwar keine, aber rückſichtlich der Klagbefugniß gölten ſie als ſolche.
„Das Teſtament iſt der letzte Wille eines römiſchen Bürgers; wem dieſe Eigenſchaft im Moment des Todes abgeht, der kann kein gültiges Teſtament hinterlaſſen.“ Das war der Satz des alten Rechts; eine Conſequenz davon, daß das Teſtament eines Bür- gers, der in feindlicher Gefangenſchaft ſtarb, keine Gültigkeit hatte. Die lex Cornelia ſah ſich veranlaßt, dieſe Conſequenz rückſichtlich der vor der Gefangenſchaft errichteten Teſtamente aufzuheben. Sie hätte es thun können in der Weiſe, wie wir heutzutage es thun würden, indem ſie dieſe Neuerung offen aus- ſprach, und ſie würde es vielleicht auch gethan haben, wenn nicht Juriſten mit im Rath geſeſſen und das Intereſſe ihrer Disciplin dadurch gewahrt hätten, daß ſie eine Wendung erſannen, die den obigen Fundamentalſatz äußerlich beſtehen ließ: die bekannte fictio legis Corneliae. Das Geſetz ſprach aus: es ſolle ſo an- geſehen werden, als ob der Teſtator bereits im Moment ſeiner Gefangennehmung, alſo noch als Freier und römiſcher Bürger verſtorben wäre.419)
Dieſe beiden Beiſpiele werden als Anhaltspunkte zur Ver- anſchaulichung des eigenthümlichen Mechanismus und der tech- niſchen Beſtimmung der Fiction genügen.
Der Zweck der Fiction beſteht in der Erleichterung der Schwierigkeiten, die mit der Aufnahme und Verarbeitung neuer, mehr oder weniger einſchneidender Rechtsſätze verbunden ſind, in der Ermöglichung, die traditionelle Lehre formell ganz in ihrer alten Geſtalt zu belaſſen, ohne doch dem Neuen praktiſch ſeine volle Wirkſamkeit dadurch irgendwie zu verkümmern. Indem ſie die Schwierigkeiten umgeht, ſtatt ſie zu löſen, charakteriſirt ſie ſich damit allerdings als eine wiſſenſchaftlich unvollkommene Form der Löſung der Aufgabe — ſie verdient denſelben Namen,
419)L. 18, 22 de capt. (49. 15).
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><p><pbfacs="#f0303"n="287"/><fwplace="top"type="header">Die künſtlichen Mittel. §. 58.</fw><lb/>
in derſelben Weiſe ab, wie der Prätor den des Richters: ſie<lb/>ſeien zwar keine, aber rückſichtlich der Klagbefugniß gölten ſie<lb/>
als ſolche.</p><lb/><p>„Das Teſtament iſt der letzte Wille eines römiſchen Bürgers;<lb/>
wem dieſe Eigenſchaft im Moment des Todes abgeht, der kann<lb/>
kein gültiges Teſtament hinterlaſſen.“ Das war der Satz des alten<lb/>
Rechts; eine Conſequenz davon, daß das Teſtament eines Bür-<lb/>
gers, der in feindlicher Gefangenſchaft ſtarb, keine Gültigkeit<lb/>
hatte. Die <hirendition="#aq">lex Cornelia</hi>ſah ſich veranlaßt, dieſe Conſequenz<lb/>
rückſichtlich der <hirendition="#g">vor</hi> der Gefangenſchaft errichteten Teſtamente<lb/>
aufzuheben. Sie hätte es thun können in der Weiſe, wie wir<lb/>
heutzutage es thun würden, indem ſie dieſe Neuerung offen aus-<lb/>ſprach, und ſie würde es vielleicht auch gethan haben, wenn nicht<lb/>
Juriſten mit im Rath geſeſſen und das Intereſſe ihrer Disciplin<lb/>
dadurch gewahrt hätten, daß ſie eine Wendung erſannen, die den<lb/>
obigen Fundamentalſatz äußerlich beſtehen ließ: die bekannte<lb/><hirendition="#aq">fictio legis Corneliae.</hi> Das Geſetz ſprach aus: es ſolle ſo an-<lb/>
geſehen werden, als ob der Teſtator bereits im Moment ſeiner<lb/>
Gefangennehmung, alſo noch als Freier und römiſcher Bürger<lb/>
verſtorben wäre.<noteplace="foot"n="419)"><hirendition="#aq">L. 18, 22 de capt.</hi> (49. 15).</note></p><lb/><p>Dieſe beiden Beiſpiele werden als Anhaltspunkte zur Ver-<lb/>
anſchaulichung des eigenthümlichen Mechanismus und der tech-<lb/>
niſchen Beſtimmung der Fiction genügen.</p><lb/><p>Der <hirendition="#g">Zweck</hi> der Fiction beſteht in der Erleichterung der<lb/>
Schwierigkeiten, die mit der Aufnahme und Verarbeitung neuer,<lb/>
mehr oder weniger einſchneidender Rechtsſätze verbunden ſind,<lb/>
in der Ermöglichung, die traditionelle Lehre formell ganz in ihrer<lb/>
alten Geſtalt zu belaſſen, ohne doch dem Neuen praktiſch ſeine<lb/>
volle Wirkſamkeit dadurch irgendwie zu verkümmern. Indem ſie<lb/>
die Schwierigkeiten umgeht, ſtatt ſie zu löſen, charakteriſirt ſie<lb/>ſich damit allerdings als eine wiſſenſchaftlich unvollkommene<lb/>
Form der Löſung der Aufgabe —ſie verdient denſelben Namen,<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[287/0303]
Die künſtlichen Mittel. §. 58.
in derſelben Weiſe ab, wie der Prätor den des Richters: ſie
ſeien zwar keine, aber rückſichtlich der Klagbefugniß gölten ſie
als ſolche.
„Das Teſtament iſt der letzte Wille eines römiſchen Bürgers;
wem dieſe Eigenſchaft im Moment des Todes abgeht, der kann
kein gültiges Teſtament hinterlaſſen.“ Das war der Satz des alten
Rechts; eine Conſequenz davon, daß das Teſtament eines Bür-
gers, der in feindlicher Gefangenſchaft ſtarb, keine Gültigkeit
hatte. Die lex Cornelia ſah ſich veranlaßt, dieſe Conſequenz
rückſichtlich der vor der Gefangenſchaft errichteten Teſtamente
aufzuheben. Sie hätte es thun können in der Weiſe, wie wir
heutzutage es thun würden, indem ſie dieſe Neuerung offen aus-
ſprach, und ſie würde es vielleicht auch gethan haben, wenn nicht
Juriſten mit im Rath geſeſſen und das Intereſſe ihrer Disciplin
dadurch gewahrt hätten, daß ſie eine Wendung erſannen, die den
obigen Fundamentalſatz äußerlich beſtehen ließ: die bekannte
fictio legis Corneliae. Das Geſetz ſprach aus: es ſolle ſo an-
geſehen werden, als ob der Teſtator bereits im Moment ſeiner
Gefangennehmung, alſo noch als Freier und römiſcher Bürger
verſtorben wäre. 419)
Dieſe beiden Beiſpiele werden als Anhaltspunkte zur Ver-
anſchaulichung des eigenthümlichen Mechanismus und der tech-
niſchen Beſtimmung der Fiction genügen.
Der Zweck der Fiction beſteht in der Erleichterung der
Schwierigkeiten, die mit der Aufnahme und Verarbeitung neuer,
mehr oder weniger einſchneidender Rechtsſätze verbunden ſind,
in der Ermöglichung, die traditionelle Lehre formell ganz in ihrer
alten Geſtalt zu belaſſen, ohne doch dem Neuen praktiſch ſeine
volle Wirkſamkeit dadurch irgendwie zu verkümmern. Indem ſie
die Schwierigkeiten umgeht, ſtatt ſie zu löſen, charakteriſirt ſie
ſich damit allerdings als eine wiſſenſchaftlich unvollkommene
Form der Löſung der Aufgabe — ſie verdient denſelben Namen,
419) L. 18, 22 de capt. (49. 15).
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/303>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.