Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.Die künstlichen Mittel. §. 58. Punkten abweicht und darum auch durch die Veränderungen, diemit jener vor sich gehen, nicht betroffen wird.397) Der praktische Werth des Scheingeschäfts beruhte auf der Freiheit, mit der die Juristen die Rechtssätze des originären dem Scheingeschäft adaptirten, sie änderten und ausschlossen, kurz auf seiner dog- matischen Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Möglich, daß letztere für manche Scheingeschäfte erst nach und nach gewonnen ward, aber nicht minder gewiß, daß andere sie von vornherein mit zur Welt brachten. Das testamentum per aes et libram war ein von der mancipatio abgezweigtes Scheingeschäft. Die mancipatio gewährte ein unwiderrufliches Recht. Wer möchte glauben, daß dieser Satz jemals beim Man- cipationstestament zur Anwendung gelangt sei? Damit wäre dasselbe seiner ganzen Brauchbarkeit in den Augen der Römer beraubt worden, es hätte aufgehört zu sein, was es von jeher war: ein Testament, und wäre in eine unwiderrufliche letztwillige Verfügung, einen Erbvertrag übergegangen. Bei der wirklichen coemptio fällt dem Manne das ganze Vermögen der Frau zu, und umgekehrt beerbt sie ihn, wenn er stirbt. Wie ungeschickt wäre es gewesen, wenn man beide Sätze auf die coemptio fiduciae causa hätte übertragen wollen! Daß es nicht geschehen ist, wird uns ausdrücklich bezeugt.398) Das Urtheil erzeugt nur Wirkungen unter den Partheien, so auch das Urtheil im Vindicationsproceß. Die in jure cessio dagegen reichte weiter, sie wirkte absolut, in einem speciellen Fall: bei der tutela legitima mulierum aber blieb sie umgekehrt hinter der vindi- catio zurück, ihre Wirkung erlosch mit dem Tode und der capitis deminutio des Cedenten.399) Eine Vindication der Erbschaft 397) Ob z. B. der ernstliche Verkauf der Frau ins Mancipium schon früh untersagt ward, relevirte nichts für den Scheinverkauf. 398) Ersteres: Gaj. II. 98: sive quam in manum ut uxorem re- ceperimus; letzteres: Gaj. I. 115b, 118. 399) Ulp. XI, 7.
Die künſtlichen Mittel. §. 58. Punkten abweicht und darum auch durch die Veränderungen, diemit jener vor ſich gehen, nicht betroffen wird.397) Der praktiſche Werth des Scheingeſchäfts beruhte auf der Freiheit, mit der die Juriſten die Rechtsſätze des originären dem Scheingeſchäft adaptirten, ſie änderten und ausſchloſſen, kurz auf ſeiner dog- matiſchen Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit. Möglich, daß letztere für manche Scheingeſchäfte erſt nach und nach gewonnen ward, aber nicht minder gewiß, daß andere ſie von vornherein mit zur Welt brachten. Das testamentum per aes et libram war ein von der mancipatio abgezweigtes Scheingeſchäft. Die mancipatio gewährte ein unwiderrufliches Recht. Wer möchte glauben, daß dieſer Satz jemals beim Man- cipationsteſtament zur Anwendung gelangt ſei? Damit wäre daſſelbe ſeiner ganzen Brauchbarkeit in den Augen der Römer beraubt worden, es hätte aufgehört zu ſein, was es von jeher war: ein Teſtament, und wäre in eine unwiderrufliche letztwillige Verfügung, einen Erbvertrag übergegangen. Bei der wirklichen coemptio fällt dem Manne das ganze Vermögen der Frau zu, und umgekehrt beerbt ſie ihn, wenn er ſtirbt. Wie ungeſchickt wäre es geweſen, wenn man beide Sätze auf die coemptio fiduciae causa hätte übertragen wollen! Daß es nicht geſchehen iſt, wird uns ausdrücklich bezeugt.398) Das Urtheil erzeugt nur Wirkungen unter den Partheien, ſo auch das Urtheil im Vindicationsproceß. Die in jure cessio dagegen reichte weiter, ſie wirkte abſolut, in einem ſpeciellen Fall: bei der tutela legitima mulierum aber blieb ſie umgekehrt hinter der vindi- catio zurück, ihre Wirkung erloſch mit dem Tode und der capitis deminutio des Cedenten.399) Eine Vindication der Erbſchaft 397) Ob z. B. der ernſtliche Verkauf der Frau ins Mancipium ſchon früh unterſagt ward, relevirte nichts für den Scheinverkauf. 398) Erſteres: Gaj. II. 98: sive quam in manum ut uxorem re- ceperimus; letzteres: Gaj. I. 115b, 118. 399) Ulp. XI, 7.
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Die künſtlichen Mittel. §. 58.
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Juriſten die Rechtsſätze des originären dem Scheingeſchäft
adaptirten, ſie änderten und ausſchloſſen, kurz auf ſeiner dog-
matiſchen Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit.
Möglich, daß letztere für manche Scheingeſchäfte erſt nach und
nach gewonnen ward, aber nicht minder gewiß, daß andere ſie
von vornherein mit zur Welt brachten. Das testamentum
per aes et libram war ein von der mancipatio abgezweigtes
Scheingeſchäft. Die mancipatio gewährte ein unwiderrufliches
Recht. Wer möchte glauben, daß dieſer Satz jemals beim Man-
cipationsteſtament zur Anwendung gelangt ſei? Damit wäre
daſſelbe ſeiner ganzen Brauchbarkeit in den Augen der Römer
beraubt worden, es hätte aufgehört zu ſein, was es von jeher
war: ein Teſtament, und wäre in eine unwiderrufliche
letztwillige Verfügung, einen Erbvertrag übergegangen. Bei der
wirklichen coemptio fällt dem Manne das ganze Vermögen der
Frau zu, und umgekehrt beerbt ſie ihn, wenn er ſtirbt. Wie
ungeſchickt wäre es geweſen, wenn man beide Sätze auf die
coemptio fiduciae causa hätte übertragen wollen! Daß es nicht
geſchehen iſt, wird uns ausdrücklich bezeugt. 398) Das Urtheil
erzeugt nur Wirkungen unter den Partheien, ſo auch das Urtheil
im Vindicationsproceß. Die in jure cessio dagegen reichte weiter,
ſie wirkte abſolut, in einem ſpeciellen Fall: bei der tutela
legitima mulierum aber blieb ſie umgekehrt hinter der vindi-
catio zurück, ihre Wirkung erloſch mit dem Tode und der capitis
deminutio des Cedenten. 399) Eine Vindication der Erbſchaft
397) Ob z. B. der ernſtliche Verkauf der Frau ins Mancipium ſchon früh
unterſagt ward, relevirte nichts für den Scheinverkauf.
398) Erſteres: Gaj. II. 98: sive quam in manum ut uxorem re-
ceperimus; letzteres: Gaj. I. 115b, 118.
399) Ulp. XI, 7.
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