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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.

Ueberschaut man die bisher von mir angeführten Fälle, so
wird Jeder mein obiges Urtheil, daß wir es hier mit einem
wohldurchdachten, ausgebildeten System zu thun haben, ge-
rechtfertigt finden, und man wird es mir gern ersparen, dasselbe
noch weiter in seine Einzelheiten zu verfolgen.312) Der Grund-
gedanke desselben besteht darin, daß die Erfordernisse aller öffent-
lichen Akte und Maßregeln in zwei Classen gebracht werden.313)
Die der einen Classe bilden die constitutiven Momente des Akts;
soweit ich beurtheilen kann, sind sie lediglich formeller Art,
die Vornahme des Akts muß von Seiten der competenten Be-
hörde und in der dafür vorgeschriebenen Form erfolgt sein. Alle
Erfordernisse, die das Sachliche des Akts betreffen, sind der
zweiten Classe zugewiesen, d. h. sie tragen die schwächere Form
von Geboten, Verboten, kurz von Vorschriften an sich, die ledig-
lich an den gerichtet sind, der den Akt vornimmt. Die Garantie
ihrer Beobachtung beruht auf seiner Pflichttreue, seinem Amts-
eid, der angedrohten Strafe; setzt er sich darüber hinweg, so ist
der Akt an sich gültig. Die Garantie für die Erfordernisse der
ersten Classe beruht auf der Nichtigkeit des Akts. Sie sind sol-

die vollständige Formel mit: Si quid in hac rogatione scriptum est, quod
per leges plebisvescita promulgare, abrogare, derogare, obrogare sine
fraude sua non liceat
, non licuerit, quodve ei qui promulgarit
etc. ob eam rem poenae multaeve sit, E. H. L. N. R. (ejus hac
lege nihil rogatur).
Bei Val. Prob. de notis ant. §. 3 kömmt eine etwas
andere Fassung vor: si quid sacri sancti est, quod non jure sit roga-
tum, ejus hac lege nihil rogatur,
s. auch Cic. pro Balbo 14.
312) z. B. in Bezug auf die Gültigkeit der Senatsbeschlüsse, s. z. B.
Gellius XIV. 7 §. 7, 8.
313) Zur allgemeinen Bezeichnung dieses Gegensatzes dienen die Aus-
drücke: necesse est auf der einen und oportet, opus, fas est oder non
est
auf der andern Seite, s. z. B. Macrob. Sat. I. 16 §. 25: praefari
necesse est, quos nominari atro die non oportet. Varro de L. L.
VI. 30 nefas fari .. necesse enim aliquo eorum uti verbo, Cic. ad
fam. I. 9 §. 25: legem curiatam consuli ferri opus esse, necesse
non
esse.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.

Ueberſchaut man die bisher von mir angeführten Fälle, ſo
wird Jeder mein obiges Urtheil, daß wir es hier mit einem
wohldurchdachten, ausgebildeten Syſtem zu thun haben, ge-
rechtfertigt finden, und man wird es mir gern erſparen, daſſelbe
noch weiter in ſeine Einzelheiten zu verfolgen.312) Der Grund-
gedanke deſſelben beſteht darin, daß die Erforderniſſe aller öffent-
lichen Akte und Maßregeln in zwei Claſſen gebracht werden.313)
Die der einen Claſſe bilden die conſtitutiven Momente des Akts;
ſoweit ich beurtheilen kann, ſind ſie lediglich formeller Art,
die Vornahme des Akts muß von Seiten der competenten Be-
hörde und in der dafür vorgeſchriebenen Form erfolgt ſein. Alle
Erforderniſſe, die das Sachliche des Akts betreffen, ſind der
zweiten Claſſe zugewieſen, d. h. ſie tragen die ſchwächere Form
von Geboten, Verboten, kurz von Vorſchriften an ſich, die ledig-
lich an den gerichtet ſind, der den Akt vornimmt. Die Garantie
ihrer Beobachtung beruht auf ſeiner Pflichttreue, ſeinem Amts-
eid, der angedrohten Strafe; ſetzt er ſich darüber hinweg, ſo iſt
der Akt an ſich gültig. Die Garantie für die Erforderniſſe der
erſten Claſſe beruht auf der Nichtigkeit des Akts. Sie ſind ſol-

die vollſtändige Formel mit: Si quid in hac rogatione scriptum est, quod
per leges plebisvescita promulgare, abrogare, derogare, obrogare sine
fraude sua non liceat
, non licuerit, quodve ei qui promulgarit
etc. ob eam rem poenae multaeve sit, E. H. L. N. R. (ejus hac
lege nihil rogatur).
Bei Val. Prob. de notis ant. §. 3 kömmt eine etwas
andere Faſſung vor: si quid sacri sancti est, quod non jure sit roga-
tum, ejus hac lege nihil rogatur,
ſ. auch Cic. pro Balbo 14.
312) z. B. in Bezug auf die Gültigkeit der Senatsbeſchlüſſe, ſ. z. B.
Gellius XIV. 7 §. 7, 8.
313) Zur allgemeinen Bezeichnung dieſes Gegenſatzes dienen die Aus-
drücke: necesse est auf der einen und oportet, opus, fas est oder non
est
auf der andern Seite, ſ. z. B. Macrob. Sat. I. 16 §. 25: praefari
necesse est, quos nominari atro die non oportet. Varro de L. L.
VI. 30 nefas fari .. necesse enim aliquo eorum uti verbo, Cic. ad
fam. I. 9 §. 25: legem curiatam consuli ferri opus esse, necesse
non
esse.
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[226/0242] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. Ueberſchaut man die bisher von mir angeführten Fälle, ſo wird Jeder mein obiges Urtheil, daß wir es hier mit einem wohldurchdachten, ausgebildeten Syſtem zu thun haben, ge- rechtfertigt finden, und man wird es mir gern erſparen, daſſelbe noch weiter in ſeine Einzelheiten zu verfolgen. 312) Der Grund- gedanke deſſelben beſteht darin, daß die Erforderniſſe aller öffent- lichen Akte und Maßregeln in zwei Claſſen gebracht werden. 313) Die der einen Claſſe bilden die conſtitutiven Momente des Akts; ſoweit ich beurtheilen kann, ſind ſie lediglich formeller Art, die Vornahme des Akts muß von Seiten der competenten Be- hörde und in der dafür vorgeſchriebenen Form erfolgt ſein. Alle Erforderniſſe, die das Sachliche des Akts betreffen, ſind der zweiten Claſſe zugewieſen, d. h. ſie tragen die ſchwächere Form von Geboten, Verboten, kurz von Vorſchriften an ſich, die ledig- lich an den gerichtet ſind, der den Akt vornimmt. Die Garantie ihrer Beobachtung beruht auf ſeiner Pflichttreue, ſeinem Amts- eid, der angedrohten Strafe; ſetzt er ſich darüber hinweg, ſo iſt der Akt an ſich gültig. Die Garantie für die Erforderniſſe der erſten Claſſe beruht auf der Nichtigkeit des Akts. Sie ſind ſol- 311) 312) z. B. in Bezug auf die Gültigkeit der Senatsbeſchlüſſe, ſ. z. B. Gellius XIV. 7 §. 7, 8. 313) Zur allgemeinen Bezeichnung dieſes Gegenſatzes dienen die Aus- drücke: necesse est auf der einen und oportet, opus, fas est oder non est auf der andern Seite, ſ. z. B. Macrob. Sat. I. 16 §. 25: praefari necesse est, quos nominari atro die non oportet. Varro de L. L. VI. 30 nefas fari .. necesse enim aliquo eorum uti verbo, Cic. ad fam. I. 9 §. 25: legem curiatam consuli ferri opus esse, necesse non esse. 311) die vollſtändige Formel mit: Si quid in hac rogatione scriptum est, quod per leges plebisvescita promulgare, abrogare, derogare, obrogare sine fraude sua non liceat, non licuerit, quodve ei qui promulgarit etc. ob eam rem poenae multaeve sit, E. H. L. N. R. (ejus hac lege nihil rogatur). Bei Val. Prob. de notis ant. §. 3 kömmt eine etwas andere Faſſung vor: si quid sacri sancti est, quod non jure sit roga- tum, ejus hac lege nihil rogatur, ſ. auch Cic. pro Balbo 14.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/242>, abgerufen am 23.11.2024.