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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
eine politische Lebensfrage ersten Ranges. Untersuchen wir, wie
das altrömische Staatsrecht dies Problem gelöst hat.

Wir knüpfen an einen bekannten historischen Fall an. Clo-
dius hatte während seines Tribunats den Cicero in die Verban-
nung getrieben und dessen Haus consecrirt, beides in den dafür
vorgeschriebenen Formen. Nachdem Cicero durch Volksbeschluß
zurückgerufen war, bemühte er sich diese Consecration rückgängig
zu machen, indem er vor dem Pontificalcollegium, welches dar-
über zu entscheiden hatte, die Nichtigkeit dieses Akts auszuführen
versuchte. Der Weg, den er dabei einschlug, war folgender.
Clodius, ein geborener Patricier, hatte sich, um das nur den
Plebejern zugängliche Tribunat zu erlangen, von einem Plebejer
arrogiren und sodann wieder emancipiren lassen. Cicero bestreitet
nun die Gültigkeit dieses Akts aus verschiedenen Gründen. An
dem Tage, wo die lex curiata über diese Arrogation erlassen,
seien Himmelsbeobachtungen angestellt (servatum de coelo)
-- ein Hinderniß für das agere cum populo --, das Altersver-
hältniß zwischen Clodius und dem Adoptivvater sei nicht das
im Pontificalrecht vorgeschriebene gewesen u. s. w. Nachdem
er dadurch die Nichtigkeit der Arrogation dargethan zu haben
glaubt, schließt er weiter: war letztere nicht gültig, so ist Clo-
dius nicht Plebejer, folglich auch nicht Volkstribun geworden,
war er letzteres nicht, so sind alle Akte, die er in dieser Eigen-
schaft vorgenommen, mithin auch die durch ihn vollzogene Con-
secration nichtig.278)

Die stillschweigende Voraussetzung, auf der diese ganze De-
duction beruht, ist eine doppelte, erstens: jeder Verstoß
gegen das geistliche oder weltliche Recht begründet Nichtigkeit
des Akts; zweitens: diese Nichtigkeit theilt sich allem mit,
was auf Grundlage dieses Akts fernerhin vorgenommen wird.
Es läßt sich nicht läugnen, daß diese Betrachtungsweise, die

278) Cic. de domo. Kurz zusammengefaßt findet sich die obige De-
duction wiederholt in seiner Rede de provinciis consularibus XIX. 45.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
eine politiſche Lebensfrage erſten Ranges. Unterſuchen wir, wie
das altrömiſche Staatsrecht dies Problem gelöſt hat.

Wir knüpfen an einen bekannten hiſtoriſchen Fall an. Clo-
dius hatte während ſeines Tribunats den Cicero in die Verban-
nung getrieben und deſſen Haus conſecrirt, beides in den dafür
vorgeſchriebenen Formen. Nachdem Cicero durch Volksbeſchluß
zurückgerufen war, bemühte er ſich dieſe Conſecration rückgängig
zu machen, indem er vor dem Pontificalcollegium, welches dar-
über zu entſcheiden hatte, die Nichtigkeit dieſes Akts auszuführen
verſuchte. Der Weg, den er dabei einſchlug, war folgender.
Clodius, ein geborener Patricier, hatte ſich, um das nur den
Plebejern zugängliche Tribunat zu erlangen, von einem Plebejer
arrogiren und ſodann wieder emancipiren laſſen. Cicero beſtreitet
nun die Gültigkeit dieſes Akts aus verſchiedenen Gründen. An
dem Tage, wo die lex curiata über dieſe Arrogation erlaſſen,
ſeien Himmelsbeobachtungen angeſtellt (servatum de coelo)
— ein Hinderniß für das agere cum populo —, das Altersver-
hältniß zwiſchen Clodius und dem Adoptivvater ſei nicht das
im Pontificalrecht vorgeſchriebene geweſen u. ſ. w. Nachdem
er dadurch die Nichtigkeit der Arrogation dargethan zu haben
glaubt, ſchließt er weiter: war letztere nicht gültig, ſo iſt Clo-
dius nicht Plebejer, folglich auch nicht Volkstribun geworden,
war er letzteres nicht, ſo ſind alle Akte, die er in dieſer Eigen-
ſchaft vorgenommen, mithin auch die durch ihn vollzogene Con-
ſecration nichtig.278)

Die ſtillſchweigende Vorausſetzung, auf der dieſe ganze De-
duction beruht, iſt eine doppelte, erſtens: jeder Verſtoß
gegen das geiſtliche oder weltliche Recht begründet Nichtigkeit
des Akts; zweitens: dieſe Nichtigkeit theilt ſich allem mit,
was auf Grundlage dieſes Akts fernerhin vorgenommen wird.
Es läßt ſich nicht läugnen, daß dieſe Betrachtungsweiſe, die

278) Cic. de domo. Kurz zuſammengefaßt findet ſich die obige De-
duction wiederholt in ſeiner Rede de provinciis consularibus XIX. 45.
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[214/0230] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. eine politiſche Lebensfrage erſten Ranges. Unterſuchen wir, wie das altrömiſche Staatsrecht dies Problem gelöſt hat. Wir knüpfen an einen bekannten hiſtoriſchen Fall an. Clo- dius hatte während ſeines Tribunats den Cicero in die Verban- nung getrieben und deſſen Haus conſecrirt, beides in den dafür vorgeſchriebenen Formen. Nachdem Cicero durch Volksbeſchluß zurückgerufen war, bemühte er ſich dieſe Conſecration rückgängig zu machen, indem er vor dem Pontificalcollegium, welches dar- über zu entſcheiden hatte, die Nichtigkeit dieſes Akts auszuführen verſuchte. Der Weg, den er dabei einſchlug, war folgender. Clodius, ein geborener Patricier, hatte ſich, um das nur den Plebejern zugängliche Tribunat zu erlangen, von einem Plebejer arrogiren und ſodann wieder emancipiren laſſen. Cicero beſtreitet nun die Gültigkeit dieſes Akts aus verſchiedenen Gründen. An dem Tage, wo die lex curiata über dieſe Arrogation erlaſſen, ſeien Himmelsbeobachtungen angeſtellt (servatum de coelo) — ein Hinderniß für das agere cum populo —, das Altersver- hältniß zwiſchen Clodius und dem Adoptivvater ſei nicht das im Pontificalrecht vorgeſchriebene geweſen u. ſ. w. Nachdem er dadurch die Nichtigkeit der Arrogation dargethan zu haben glaubt, ſchließt er weiter: war letztere nicht gültig, ſo iſt Clo- dius nicht Plebejer, folglich auch nicht Volkstribun geworden, war er letzteres nicht, ſo ſind alle Akte, die er in dieſer Eigen- ſchaft vorgenommen, mithin auch die durch ihn vollzogene Con- ſecration nichtig. 278) Die ſtillſchweigende Vorausſetzung, auf der dieſe ganze De- duction beruht, iſt eine doppelte, erſtens: jeder Verſtoß gegen das geiſtliche oder weltliche Recht begründet Nichtigkeit des Akts; zweitens: dieſe Nichtigkeit theilt ſich allem mit, was auf Grundlage dieſes Akts fernerhin vorgenommen wird. Es läßt ſich nicht läugnen, daß dieſe Betrachtungsweiſe, die 278) Cic. de domo. Kurz zuſammengefaßt findet ſich die obige De- duction wiederholt in ſeiner Rede de provinciis consularibus XIX. 45.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/230>, abgerufen am 28.11.2024.