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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
werden mußte (asserere in libertatem -- vindex libertatis),
denn nur mittelst dieser Form konnte sie der Vindication eines
angeblichen Sklaven gegenüber als contravindicatio auf-
treten. Der Widerspruch in Form der bloßen Negation hätte
nämlich nicht lauten können, daß dies Individuum frei sei,
sondern nur: daß es nicht Sklave dieses Klägers sei. 120)

In strenger Durchführung der Idee eines Doppelprocesses
konnte das Urtheil dreifach lauten: entweder nämlich dem An-
trag des Klägers gemäß (servum esse) oder dem des Beklagten
oder seines Vinder gemäß (liberum esse) 121) oder endlich ab-
weisend für beide Theile, wenn nämlich keiner von ihnen seine
Behauptung bewiesen hatte, also z. B. das Individuum, um
das der Proceß sich drehte, sich zwar nicht als Sklave des Klä-
gers, aber doch als Sklave erwiesen hatte: hier lautete der Spruch
auf: servum Titii non videri. Eines doppelten Aus-
spruchs des Richters bedurfte es in allen drei Fällen nicht, und
eben darin bethätigte sich formell die Einheit des Doppelpro-
cesses; wären es zwei gesonderte Processe gewesen, so hätte der
Richter zwei besondere Sentenzen erlassen müssen; die Dop-
pelheit äußerte sich bloß in den Behauptungen der Partheien, die
Einheit im Streitgegenstande und im Urtheil.

Das bisher geschilderte Interesse der Möglichkeit einer selb-
ständigen
Intention für den Beklagten, oder gebrauchen wir

120) So erklärt sich auch das "praejudicium" an aliquis libertus
sit Gaj. IV.
44. Das Patronat begründete so wenig wie die Vormundschaft
ein "suum esse"; entgegengesetzten Falls hätte es der contravindicatio be-
durft (wenigstens wenn das Urtheil zu Gunsten des Beklagten nicht negativ,
sondern positiv auf: ingenuum esse hätte lauten sollen), dann aber wäre
auch ein vindex (ingenuitatis!) nöthig gewesen.
121) Anders Rudorff R. R. G. II. 131; aber die L. 27 §. 1 de lib.
caus
. (40. 12) dient mir gerade als Argument für meine Ansicht, indem sie
bloß im Fall des Ausbleibens des Klägers den Richter anweist negativ zu er-
kennen: servum illius non videri, also damit für den entgegengesetzten Fall
die Möglichkeit des Ausspruchs: liberum videri voraussetzt. Letztere wird
übrigens in L. 4 §. 27 Cod. de lib. caus. (7. 16) ausdrücklich anerkannt.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
werden mußte (asserere in libertatem — vindex libertatis),
denn nur mittelſt dieſer Form konnte ſie der Vindication eines
angeblichen Sklaven gegenüber als contravindicatio auf-
treten. Der Widerſpruch in Form der bloßen Negation hätte
nämlich nicht lauten können, daß dies Individuum frei ſei,
ſondern nur: daß es nicht Sklave dieſes Klägers ſei. 120)

In ſtrenger Durchführung der Idee eines Doppelproceſſes
konnte das Urtheil dreifach lauten: entweder nämlich dem An-
trag des Klägers gemäß (servum esse) oder dem des Beklagten
oder ſeines Vinder gemäß (liberum esse) 121) oder endlich ab-
weiſend für beide Theile, wenn nämlich keiner von ihnen ſeine
Behauptung bewieſen hatte, alſo z. B. das Individuum, um
das der Proceß ſich drehte, ſich zwar nicht als Sklave des Klä-
gers, aber doch als Sklave erwieſen hatte: hier lautete der Spruch
auf: servum Titii non videri. Eines doppelten Aus-
ſpruchs des Richters bedurfte es in allen drei Fällen nicht, und
eben darin bethätigte ſich formell die Einheit des Doppelpro-
ceſſes; wären es zwei geſonderte Proceſſe geweſen, ſo hätte der
Richter zwei beſondere Sentenzen erlaſſen müſſen; die Dop-
pelheit äußerte ſich bloß in den Behauptungen der Partheien, die
Einheit im Streitgegenſtande und im Urtheil.

Das bisher geſchilderte Intereſſe der Möglichkeit einer ſelb-
ſtändigen
Intention für den Beklagten, oder gebrauchen wir

120) So erklärt ſich auch das „praejudicium“ an aliquis libertus
sit Gaj. IV.
44. Das Patronat begründete ſo wenig wie die Vormundſchaft
ein „suum esse“; entgegengeſetzten Falls hätte es der contravindicatio be-
durft (wenigſtens wenn das Urtheil zu Gunſten des Beklagten nicht negativ,
ſondern poſitiv auf: ingenuum esse hätte lauten ſollen), dann aber wäre
auch ein vindex (ingenuitatis!) nöthig geweſen.
121) Anders Rudorff R. R. G. II. 131; aber die L. 27 §. 1 de lib.
caus
. (40. 12) dient mir gerade als Argument für meine Anſicht, indem ſie
bloß im Fall des Ausbleibens des Klägers den Richter anweiſt negativ zu er-
kennen: servum illius non videri, alſo damit für den entgegengeſetzten Fall
die Möglichkeit des Ausſpruchs: liberum videri vorausſetzt. Letztere wird
übrigens in L. 4 §. 27 Cod. de lib. caus. (7. 16) ausdrücklich anerkannt.
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[94/0110] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. werden mußte (asserere in libertatem — vindex libertatis), denn nur mittelſt dieſer Form konnte ſie der Vindication eines angeblichen Sklaven gegenüber als contravindicatio auf- treten. Der Widerſpruch in Form der bloßen Negation hätte nämlich nicht lauten können, daß dies Individuum frei ſei, ſondern nur: daß es nicht Sklave dieſes Klägers ſei. 120) In ſtrenger Durchführung der Idee eines Doppelproceſſes konnte das Urtheil dreifach lauten: entweder nämlich dem An- trag des Klägers gemäß (servum esse) oder dem des Beklagten oder ſeines Vinder gemäß (liberum esse) 121) oder endlich ab- weiſend für beide Theile, wenn nämlich keiner von ihnen ſeine Behauptung bewieſen hatte, alſo z. B. das Individuum, um das der Proceß ſich drehte, ſich zwar nicht als Sklave des Klä- gers, aber doch als Sklave erwieſen hatte: hier lautete der Spruch auf: servum Titii non videri. Eines doppelten Aus- ſpruchs des Richters bedurfte es in allen drei Fällen nicht, und eben darin bethätigte ſich formell die Einheit des Doppelpro- ceſſes; wären es zwei geſonderte Proceſſe geweſen, ſo hätte der Richter zwei beſondere Sentenzen erlaſſen müſſen; die Dop- pelheit äußerte ſich bloß in den Behauptungen der Partheien, die Einheit im Streitgegenſtande und im Urtheil. Das bisher geſchilderte Intereſſe der Möglichkeit einer ſelb- ſtändigen Intention für den Beklagten, oder gebrauchen wir 120) So erklärt ſich auch das „praejudicium“ an aliquis libertus sit Gaj. IV. 44. Das Patronat begründete ſo wenig wie die Vormundſchaft ein „suum esse“; entgegengeſetzten Falls hätte es der contravindicatio be- durft (wenigſtens wenn das Urtheil zu Gunſten des Beklagten nicht negativ, ſondern poſitiv auf: ingenuum esse hätte lauten ſollen), dann aber wäre auch ein vindex (ingenuitatis!) nöthig geweſen. 121) Anders Rudorff R. R. G. II. 131; aber die L. 27 §. 1 de lib. caus. (40. 12) dient mir gerade als Argument für meine Anſicht, indem ſie bloß im Fall des Ausbleibens des Klägers den Richter anweiſt negativ zu er- kennen: servum illius non videri, alſo damit für den entgegengeſetzten Fall die Möglichkeit des Ausſpruchs: liberum videri vorausſetzt. Letztere wird übrigens in L. 4 §. 27 Cod. de lib. caus. (7. 16) ausdrücklich anerkannt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/110>, abgerufen am 23.11.2024.