Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.A. Der Proceß. Vertheidigung -- Doppelklage. §. 52. Processes hätte es einer ganz besondern Procedur bedurft, ent-weder nämlich hätte der Vater einen Kläger aufstellen müssen, welcher die Tochter als die eigne in Anspruch nahm und ihm da- durch Gelegenheit gab, seinerseits in Form der contravindicatio dasselbe Verhältniß für sich in Anspruch zu nehmen, oder er hätte, indem er künstlich für einen Beklagten sorgte, der ihm die Tochter vorenthielt, als Kläger mit jener Behauptung auftreten müssen. Kurzum jeder andere Weg als der angenommene mußte sich als unbrauchbar erweisen. Haben wir hierin das Richtige getroffen, so ergibt sich dar- 119) Diese doppelte Möglichkeit nahm App. Claudius im Proceß der Vir-
ginia zum Vorwand, um im ersten Termin (Liv. III. 45) die vindiciae secun- dum libertatem zu verweigern. Die Vertheidiger des Mädchens, sagt er, hät- ten selbst zugestanden, daß es sich hier um einen Conflict zwischen herrschaftlicher und väterlicher Gewalt handle (Liv. III. c. 45), auf den Fall aber beziehe sich die Bestimmung der XII Tafeln nicht, hier habe vielmehr (wenn der Va- ter nicht da sei) der Herr Anspruch auf die Vindicien. Eben darum suchte er das Erscheinen des Vaters um jeden Preis zu verhindern, und erst als dieser wider Erwarten erschien und damit seinen ganzen Plan vereitelte, ließ er sich zu einem Act offener Ungesetzlichkeit verleiten. Neben dem für den Vater in Aussicht genommenen Proceß über die Frage: väterliche Gewalt oder Skla- verei war bereits ein anderer über die Frage: Sklaverei oder Freiheit in der Person des Icilius instruirt (Liv. III. 46 -- ita vindicatur Virginia), aber auf diesen Proceß war Appius vorbereitet, auf ihn seine ganze Ausflucht berechnet. Anders erklärt Puntschart (Note 102) die Sache. A. Der Proceß. Vertheidigung — Doppelklage. §. 52. Proceſſes hätte es einer ganz beſondern Procedur bedurft, ent-weder nämlich hätte der Vater einen Kläger aufſtellen müſſen, welcher die Tochter als die eigne in Anſpruch nahm und ihm da- durch Gelegenheit gab, ſeinerſeits in Form der contravindicatio daſſelbe Verhältniß für ſich in Anſpruch zu nehmen, oder er hätte, indem er künſtlich für einen Beklagten ſorgte, der ihm die Tochter vorenthielt, als Kläger mit jener Behauptung auftreten müſſen. Kurzum jeder andere Weg als der angenommene mußte ſich als unbrauchbar erweiſen. Haben wir hierin das Richtige getroffen, ſo ergibt ſich dar- 119) Dieſe doppelte Möglichkeit nahm App. Claudius im Proceß der Vir-
ginia zum Vorwand, um im erſten Termin (Liv. III. 45) die vindiciae secun- dum libertatem zu verweigern. Die Vertheidiger des Mädchens, ſagt er, hät- ten ſelbſt zugeſtanden, daß es ſich hier um einen Conflict zwiſchen herrſchaftlicher und väterlicher Gewalt handle (Liv. III. c. 45), auf den Fall aber beziehe ſich die Beſtimmung der XII Tafeln nicht, hier habe vielmehr (wenn der Va- ter nicht da ſei) der Herr Anſpruch auf die Vindicien. Eben darum ſuchte er das Erſcheinen des Vaters um jeden Preis zu verhindern, und erſt als dieſer wider Erwarten erſchien und damit ſeinen ganzen Plan vereitelte, ließ er ſich zu einem Act offener Ungeſetzlichkeit verleiten. Neben dem für den Vater in Ausſicht genommenen Proceß über die Frage: väterliche Gewalt oder Skla- verei war bereits ein anderer über die Frage: Sklaverei oder Freiheit in der Perſon des Icilius inſtruirt (Liv. III. 46 — ita vindicatur Virginia), aber auf dieſen Proceß war Appius vorbereitet, auf ihn ſeine ganze Ausflucht berechnet. Anders erklärt Puntſchart (Note 102) die Sache. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <div n="9"> <div n="10"> <div n="11"> <div n="12"> <p><pb facs="#f0109" n="93"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">A.</hi> Der Proceß. Vertheidigung — Doppelklage. §. 52.</fw><lb/> Proceſſes hätte es einer ganz beſondern Procedur bedurft, ent-<lb/> weder nämlich hätte der Vater einen Kläger aufſtellen müſſen,<lb/> welcher die Tochter als die eigne in Anſpruch nahm und ihm da-<lb/> durch Gelegenheit gab, ſeinerſeits in Form der <hi rendition="#aq">contravindicatio</hi><lb/> daſſelbe Verhältniß für ſich in Anſpruch zu nehmen, oder er<lb/> hätte, indem er künſtlich für einen Beklagten ſorgte, der ihm die<lb/> Tochter vorenthielt, als Kläger mit jener Behauptung auftreten<lb/> müſſen. Kurzum jeder andere Weg als der angenommene mußte<lb/> ſich als unbrauchbar erweiſen.</p><lb/> <p>Haben wir hierin das Richtige getroffen, ſo ergibt ſich dar-<lb/> aus, daß die poſitive Behauptung, die man einer ſolchen Klage<lb/> entgegenſetzen durfte, eine verſchiedenartige ſein konnte, ſo z. B.<lb/> in dem obigen Fall der Virginia <hi rendition="#g">die</hi>, welche ihr Verlobter in<lb/> Wirklichkeit aufſtellte <hi rendition="#aq">Virginiam liberam esse,</hi> ſodann <hi rendition="#g">die</hi>, die<lb/> der Vater, wenn er anweſend geweſen, hätte entgegenſetzen kön-<lb/> nen: <hi rendition="#aq">filiam suam esse ex jure Quiritium;</hi> <note place="foot" n="119)">Dieſe doppelte Möglichkeit nahm App. Claudius im Proceß der Vir-<lb/> ginia zum Vorwand, um im erſten Termin (<hi rendition="#aq">Liv. III.</hi> 45) die <hi rendition="#aq">vindiciae secun-<lb/> dum libertatem</hi> zu verweigern. Die Vertheidiger des Mädchens, ſagt er, hät-<lb/> ten ſelbſt zugeſtanden, daß es ſich hier um einen Conflict zwiſchen herrſchaftlicher<lb/> und väterlicher Gewalt handle (<hi rendition="#aq">Liv. III. c.</hi> 45), auf <hi rendition="#g">den</hi> Fall aber beziehe<lb/> ſich die Beſtimmung der <hi rendition="#aq">XII</hi> Tafeln nicht, hier habe vielmehr (wenn der Va-<lb/> ter nicht da ſei) der <hi rendition="#g">Herr</hi> Anſpruch auf die Vindicien. Eben darum ſuchte<lb/> er das Erſcheinen des Vaters um jeden Preis zu verhindern, und erſt als dieſer<lb/> wider Erwarten erſchien und damit ſeinen ganzen Plan vereitelte, ließ er ſich<lb/> zu einem Act offener Ungeſetzlichkeit verleiten. Neben dem für den Vater in<lb/> Ausſicht genommenen Proceß über die Frage: väterliche Gewalt oder Skla-<lb/> verei war bereits ein anderer über die Frage: Sklaverei oder Freiheit in der<lb/> Perſon des Icilius inſtruirt (<hi rendition="#aq">Liv. III. 46 — ita vindicatur Virginia</hi>), aber<lb/> auf <hi rendition="#g">dieſen</hi> Proceß war Appius vorbereitet, auf ihn ſeine ganze Ausflucht<lb/> berechnet. Anders erklärt <hi rendition="#g">Puntſchart</hi> (Note 102) die Sache.</note> in einem andern<lb/> Fall hätte der Kläger vielleicht noch die Behauptung gewärtigen<lb/> müſſen, daß das Mädchen Sklavin des Beklagten ſei oder ſich in<lb/> ſeinem Mancipium befinde. Im Bisherigen liegt zugleich die<lb/> Erklärung dafür, warum die Behauptung der Freiheit in die<lb/> Form einer <hi rendition="#g">Vindication</hi>, nicht eines Präjudiciums gebracht<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [93/0109]
A. Der Proceß. Vertheidigung — Doppelklage. §. 52.
Proceſſes hätte es einer ganz beſondern Procedur bedurft, ent-
weder nämlich hätte der Vater einen Kläger aufſtellen müſſen,
welcher die Tochter als die eigne in Anſpruch nahm und ihm da-
durch Gelegenheit gab, ſeinerſeits in Form der contravindicatio
daſſelbe Verhältniß für ſich in Anſpruch zu nehmen, oder er
hätte, indem er künſtlich für einen Beklagten ſorgte, der ihm die
Tochter vorenthielt, als Kläger mit jener Behauptung auftreten
müſſen. Kurzum jeder andere Weg als der angenommene mußte
ſich als unbrauchbar erweiſen.
Haben wir hierin das Richtige getroffen, ſo ergibt ſich dar-
aus, daß die poſitive Behauptung, die man einer ſolchen Klage
entgegenſetzen durfte, eine verſchiedenartige ſein konnte, ſo z. B.
in dem obigen Fall der Virginia die, welche ihr Verlobter in
Wirklichkeit aufſtellte Virginiam liberam esse, ſodann die, die
der Vater, wenn er anweſend geweſen, hätte entgegenſetzen kön-
nen: filiam suam esse ex jure Quiritium; 119) in einem andern
Fall hätte der Kläger vielleicht noch die Behauptung gewärtigen
müſſen, daß das Mädchen Sklavin des Beklagten ſei oder ſich in
ſeinem Mancipium befinde. Im Bisherigen liegt zugleich die
Erklärung dafür, warum die Behauptung der Freiheit in die
Form einer Vindication, nicht eines Präjudiciums gebracht
119) Dieſe doppelte Möglichkeit nahm App. Claudius im Proceß der Vir-
ginia zum Vorwand, um im erſten Termin (Liv. III. 45) die vindiciae secun-
dum libertatem zu verweigern. Die Vertheidiger des Mädchens, ſagt er, hät-
ten ſelbſt zugeſtanden, daß es ſich hier um einen Conflict zwiſchen herrſchaftlicher
und väterlicher Gewalt handle (Liv. III. c. 45), auf den Fall aber beziehe
ſich die Beſtimmung der XII Tafeln nicht, hier habe vielmehr (wenn der Va-
ter nicht da ſei) der Herr Anſpruch auf die Vindicien. Eben darum ſuchte
er das Erſcheinen des Vaters um jeden Preis zu verhindern, und erſt als dieſer
wider Erwarten erſchien und damit ſeinen ganzen Plan vereitelte, ließ er ſich
zu einem Act offener Ungeſetzlichkeit verleiten. Neben dem für den Vater in
Ausſicht genommenen Proceß über die Frage: väterliche Gewalt oder Skla-
verei war bereits ein anderer über die Frage: Sklaverei oder Freiheit in der
Perſon des Icilius inſtruirt (Liv. III. 46 — ita vindicatur Virginia), aber
auf dieſen Proceß war Appius vorbereitet, auf ihn ſeine ganze Ausflucht
berechnet. Anders erklärt Puntſchart (Note 102) die Sache.
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