ration sein, die die Jurisprudenz an dem gesetzlichen Rohstoff vornimmt. Um zu construiren, muß sie erst inter- pretiren; die niedere Jurisprudenz ist die noth- wendige Vorstufe der höheren.
Aber sie ist eben auch nur eine Vorstufe, und die Jurispru- denz soll nicht länger auf ihr verweilen, als nöthig. Erst auf der höheren Stufe erreicht sie ihre wahre Bestimmung, erst hier wird ihre Aufgabe und Methode eine specifisch juristische, und erst hier gewinnt sie ihren eigenthümlichen wissenschaftlichen Charakter, der sie von allen andern Wissenschaften unterscheidet.
Die Gränzlinie zwischen der niederen und höheren Jurispru- denz läßt sich, wenn auch nicht im einzelnen Fall, so doch im Begriff ganz scharf bezeichnen. Sie hängt zusammen mit einer eigenthümlichen Anschauungsweise des Rechts, die ich die natur- historische nennen möchte. Aber nicht sowohl mit dem bloßen unthätigen Besitz derselben, als mit ihrer energischen und con- sequenten Verwirklichung am Rechtsstoff. Ob jene Anschauungs- weise eine künstliche oder natürliche, eine nahe oder fernliegende ist, darüber will ich nicht rechten. Will man sie zu derjenigen, durch welche sich die niedere Jurisprudenz bei der Bearbeitung des Stoffs leiten läßt, mit zwei Worten in Gegensatz stellen, so sind es die Worte: Rechtsinstitut, Rechtsbegriff auf der einen und Rechtssätze, Rechtsprincipien auf der andern Seite. Das Rechtsinstitut ist kein bloßes Conglomerat von einzelnen Rechtssätzen, die sich auf dasselbe Verhältniß beziehen, sondern etwas wesentlich von ihnen Verschiedenes. Die Rechts- sätze sind eine Masse Stoff, Gedanken, haben nur ein rein sub- stantielles Dasein, die Rechtsinstitute aber sind Existenzen, logi- sche Individualitäten, juristische Wesen. Wir erfassen und erfül- len sie mit der Vorstellung des individuellen Seins und Lebens, sie entstehen, gehen unter, wirken, treten in Conflict mit ande- ren, sie haben ihre Aufgaben, Zwecke, denen sie dienstbar sind, und dem entsprechend ihre eigenthümlichen Kräfte und Eigen- schaften u. s. w. Ich würde sie, um dem Leser diese Vorstellung
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3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
ration ſein, die die Jurisprudenz an dem geſetzlichen Rohſtoff vornimmt. Um zu conſtruiren, muß ſie erſt inter- pretiren; die niedere Jurisprudenz iſt die noth- wendige Vorſtufe der höheren.
Aber ſie iſt eben auch nur eine Vorſtufe, und die Jurispru- denz ſoll nicht länger auf ihr verweilen, als nöthig. Erſt auf der höheren Stufe erreicht ſie ihre wahre Beſtimmung, erſt hier wird ihre Aufgabe und Methode eine ſpecifiſch juriſtiſche, und erſt hier gewinnt ſie ihren eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen Charakter, der ſie von allen andern Wiſſenſchaften unterſcheidet.
Die Gränzlinie zwiſchen der niederen und höheren Jurispru- denz läßt ſich, wenn auch nicht im einzelnen Fall, ſo doch im Begriff ganz ſcharf bezeichnen. Sie hängt zuſammen mit einer eigenthümlichen Anſchauungsweiſe des Rechts, die ich die natur- hiſtoriſche nennen möchte. Aber nicht ſowohl mit dem bloßen unthätigen Beſitz derſelben, als mit ihrer energiſchen und con- ſequenten Verwirklichung am Rechtsſtoff. Ob jene Anſchauungs- weiſe eine künſtliche oder natürliche, eine nahe oder fernliegende iſt, darüber will ich nicht rechten. Will man ſie zu derjenigen, durch welche ſich die niedere Jurisprudenz bei der Bearbeitung des Stoffs leiten läßt, mit zwei Worten in Gegenſatz ſtellen, ſo ſind es die Worte: Rechtsinſtitut, Rechtsbegriff auf der einen und Rechtsſätze, Rechtsprincipien auf der andern Seite. Das Rechtsinſtitut iſt kein bloßes Conglomerat von einzelnen Rechtsſätzen, die ſich auf daſſelbe Verhältniß beziehen, ſondern etwas weſentlich von ihnen Verſchiedenes. Die Rechts- ſätze ſind eine Maſſe Stoff, Gedanken, haben nur ein rein ſub- ſtantielles Daſein, die Rechtsinſtitute aber ſind Exiſtenzen, logi- ſche Individualitäten, juriſtiſche Weſen. Wir erfaſſen und erfül- len ſie mit der Vorſtellung des individuellen Seins und Lebens, ſie entſtehen, gehen unter, wirken, treten in Conflict mit ande- ren, ſie haben ihre Aufgaben, Zwecke, denen ſie dienſtbar ſind, und dem entſprechend ihre eigenthümlichen Kräfte und Eigen- ſchaften u. ſ. w. Ich würde ſie, um dem Leſer dieſe Vorſtellung
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3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
ration ſein, die die Jurisprudenz an dem geſetzlichen Rohſtoff
vornimmt. Um zu conſtruiren, muß ſie erſt inter-
pretiren; die niedere Jurisprudenz iſt die noth-
wendige Vorſtufe der höheren.
Aber ſie iſt eben auch nur eine Vorſtufe, und die Jurispru-
denz ſoll nicht länger auf ihr verweilen, als nöthig. Erſt auf
der höheren Stufe erreicht ſie ihre wahre Beſtimmung, erſt hier
wird ihre Aufgabe und Methode eine ſpecifiſch juriſtiſche, und
erſt hier gewinnt ſie ihren eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen
Charakter, der ſie von allen andern Wiſſenſchaften unterſcheidet.
Die Gränzlinie zwiſchen der niederen und höheren Jurispru-
denz läßt ſich, wenn auch nicht im einzelnen Fall, ſo doch im
Begriff ganz ſcharf bezeichnen. Sie hängt zuſammen mit einer
eigenthümlichen Anſchauungsweiſe des Rechts, die ich die natur-
hiſtoriſche nennen möchte. Aber nicht ſowohl mit dem bloßen
unthätigen Beſitz derſelben, als mit ihrer energiſchen und con-
ſequenten Verwirklichung am Rechtsſtoff. Ob jene Anſchauungs-
weiſe eine künſtliche oder natürliche, eine nahe oder fernliegende
iſt, darüber will ich nicht rechten. Will man ſie zu derjenigen,
durch welche ſich die niedere Jurisprudenz bei der Bearbeitung
des Stoffs leiten läßt, mit zwei Worten in Gegenſatz ſtellen, ſo
ſind es die Worte: Rechtsinſtitut, Rechtsbegriff auf der
einen und Rechtsſätze, Rechtsprincipien auf der andern
Seite. Das Rechtsinſtitut iſt kein bloßes Conglomerat von
einzelnen Rechtsſätzen, die ſich auf daſſelbe Verhältniß beziehen,
ſondern etwas weſentlich von ihnen Verſchiedenes. Die Rechts-
ſätze ſind eine Maſſe Stoff, Gedanken, haben nur ein rein ſub-
ſtantielles Daſein, die Rechtsinſtitute aber ſind Exiſtenzen, logi-
ſche Individualitäten, juriſtiſche Weſen. Wir erfaſſen und erfül-
len ſie mit der Vorſtellung des individuellen Seins und Lebens,
ſie entſtehen, gehen unter, wirken, treten in Conflict mit ande-
ren, ſie haben ihre Aufgaben, Zwecke, denen ſie dienſtbar ſind,
und dem entſprechend ihre eigenthümlichen Kräfte und Eigen-
ſchaften u. ſ. w. Ich würde ſie, um dem Leſer dieſe Vorſtellung
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/93>, abgerufen am 16.02.2025.
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