aber würde ihr diese Möglichkeit geboten sein, wenn der Gesetz- geber selbst das Princip bereits in seiner ganzen Schärfe und Bestimmtheit ausgesprochen hätte. Allein diese Annahme tritt in den seltensten Fällen ein; es ist dafür gesorgt, daß es der Jurisprudenz in dieser Beziehung nicht an Arbeit fehlt.
Die Möglichkeit einer Concentrirung des gesetzlichen Stoffs durch die Jurisprudenz setzt voraus, daß der Gesetzgeber ein Princip gehabt und angewandt hat, ohne dasselbe als sol- ches unmittelbar erkannt oder ausgesprochen zu haben. Die Geschichte lehrt uns, daß dies nicht bloß nichts seltenes, son- dern sogar der gewöhnliche Fall ist, und um so weniger kann dies bei dem Gesetzgeber befremden, als ja auch die Wissenschaft darin nur zu oft das Schicksal desselben theilt; auch bei ihr ist das Gefühl der Erkenntniß oft um Jahrhunderte voraus. So wird es möglich, daß ein Princip, bevor es in seiner wahren Gestalt erkannt und ausgesprochen wird, oft bereits die längste Zeit bestanden, ja vielleicht zu bestehen aufgehört hat.
Die einzelnen Rechtssätze, in denen der Gesetzgeber unbewußt ein Princip zur Anwendung bringt, verhalten sich zu letzterem selbst, wie die Kreislinie zum Centrum. Das Princip ist der Punkt, den der Gesetzgeber sucht, aber so lange es ihm noch nicht gelungen sich seiner zu bemächtigen, ist er gezwungen, ihn zu umkreisen d. h. mit Rechtssätzen einzuschließen. Das Prin- cip ist der dunkle Punkt, der ihn zieht und der, je nachdem die Ahnung desselben in ihm lebendig ist, ihn zur Innehaltung einer mehr oder minder regulären und mehr oder minder entfernten Kreislinie veranlaßt. Ebenso wie er, irrt auch die Wissenschaft in der Peripherie herum, bevor sie das Centrum gefunden. Die Ausführlichkeit der Darstellung, zu der sie sich gezwungen sieht, der descriptive und enumerative Charakter derselben ist nur ein Beweis, daß sie den rechten Punkt noch nicht getroffen. Mit jedem Schritt, um den sie sich dem Centrum nähert, wird der Kreis enger, nimmt die Zahl ihrer Lehrsätze ab, der Gehalt
2. Die logiſche Concentration. §. 40.
aber würde ihr dieſe Möglichkeit geboten ſein, wenn der Geſetz- geber ſelbſt das Princip bereits in ſeiner ganzen Schärfe und Beſtimmtheit ausgeſprochen hätte. Allein dieſe Annahme tritt in den ſeltenſten Fällen ein; es iſt dafür geſorgt, daß es der Jurisprudenz in dieſer Beziehung nicht an Arbeit fehlt.
Die Möglichkeit einer Concentrirung des geſetzlichen Stoffs durch die Jurisprudenz ſetzt voraus, daß der Geſetzgeber ein Princip gehabt und angewandt hat, ohne daſſelbe als ſol- ches unmittelbar erkannt oder ausgeſprochen zu haben. Die Geſchichte lehrt uns, daß dies nicht bloß nichts ſeltenes, ſon- dern ſogar der gewöhnliche Fall iſt, und um ſo weniger kann dies bei dem Geſetzgeber befremden, als ja auch die Wiſſenſchaft darin nur zu oft das Schickſal deſſelben theilt; auch bei ihr iſt das Gefühl der Erkenntniß oft um Jahrhunderte voraus. So wird es möglich, daß ein Princip, bevor es in ſeiner wahren Geſtalt erkannt und ausgeſprochen wird, oft bereits die längſte Zeit beſtanden, ja vielleicht zu beſtehen aufgehört hat.
Die einzelnen Rechtsſätze, in denen der Geſetzgeber unbewußt ein Princip zur Anwendung bringt, verhalten ſich zu letzterem ſelbſt, wie die Kreislinie zum Centrum. Das Princip iſt der Punkt, den der Geſetzgeber ſucht, aber ſo lange es ihm noch nicht gelungen ſich ſeiner zu bemächtigen, iſt er gezwungen, ihn zu umkreiſen d. h. mit Rechtsſätzen einzuſchließen. Das Prin- cip iſt der dunkle Punkt, der ihn zieht und der, je nachdem die Ahnung deſſelben in ihm lebendig iſt, ihn zur Innehaltung einer mehr oder minder regulären und mehr oder minder entfernten Kreislinie veranlaßt. Ebenſo wie er, irrt auch die Wiſſenſchaft in der Peripherie herum, bevor ſie das Centrum gefunden. Die Ausführlichkeit der Darſtellung, zu der ſie ſich gezwungen ſieht, der deſcriptive und enumerative Charakter derſelben iſt nur ein Beweis, daß ſie den rechten Punkt noch nicht getroffen. Mit jedem Schritt, um den ſie ſich dem Centrum nähert, wird der Kreis enger, nimmt die Zahl ihrer Lehrſätze ab, der Gehalt
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2. Die logiſche Concentration. §. 40.
aber würde ihr dieſe Möglichkeit geboten ſein, wenn der Geſetz-
geber ſelbſt das Princip bereits in ſeiner ganzen Schärfe und
Beſtimmtheit ausgeſprochen hätte. Allein dieſe Annahme tritt
in den ſeltenſten Fällen ein; es iſt dafür geſorgt, daß es der
Jurisprudenz in dieſer Beziehung nicht an Arbeit fehlt.
Die Möglichkeit einer Concentrirung des geſetzlichen Stoffs
durch die Jurisprudenz ſetzt voraus, daß der Geſetzgeber ein
Princip gehabt und angewandt hat, ohne daſſelbe als ſol-
ches unmittelbar erkannt oder ausgeſprochen zu haben. Die
Geſchichte lehrt uns, daß dies nicht bloß nichts ſeltenes, ſon-
dern ſogar der gewöhnliche Fall iſt, und um ſo weniger kann
dies bei dem Geſetzgeber befremden, als ja auch die Wiſſenſchaft
darin nur zu oft das Schickſal deſſelben theilt; auch bei ihr iſt
das Gefühl der Erkenntniß oft um Jahrhunderte voraus.
So wird es möglich, daß ein Princip, bevor es in ſeiner wahren
Geſtalt erkannt und ausgeſprochen wird, oft bereits die längſte
Zeit beſtanden, ja vielleicht zu beſtehen aufgehört hat.
Die einzelnen Rechtsſätze, in denen der Geſetzgeber unbewußt
ein Princip zur Anwendung bringt, verhalten ſich zu letzterem
ſelbſt, wie die Kreislinie zum Centrum. Das Princip iſt der
Punkt, den der Geſetzgeber ſucht, aber ſo lange es ihm noch
nicht gelungen ſich ſeiner zu bemächtigen, iſt er gezwungen, ihn
zu umkreiſen d. h. mit Rechtsſätzen einzuſchließen. Das Prin-
cip iſt der dunkle Punkt, der ihn zieht und der, je nachdem die
Ahnung deſſelben in ihm lebendig iſt, ihn zur Innehaltung einer
mehr oder minder regulären und mehr oder minder entfernten
Kreislinie veranlaßt. Ebenſo wie er, irrt auch die Wiſſenſchaft
in der Peripherie herum, bevor ſie das Centrum gefunden. Die
Ausführlichkeit der Darſtellung, zu der ſie ſich gezwungen ſieht,
der deſcriptive und enumerative Charakter derſelben iſt nur ein
Beweis, daß ſie den rechten Punkt noch nicht getroffen. Mit
jedem Schritt, um den ſie ſich dem Centrum nähert, wird der
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/87>, abgerufen am 16.02.2025.
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