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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
sich nicht bloß die Beschaffenheit und Bedeutung unserer vor-
handenen Rechts-Buchstaben, sondern die Zeit bringt uns völlig
neue und streicht die alten aus. Wie sehr aber dennoch ein ein-
zelnes Rechtsalphabet bei aller seiner Positivität den Einflüssen
von Zeit und Ort zu trotzen vermag, davon gibt uns das römi-
sche ein schlagendes Beispiel. Die praktische Gestaltung des Ei-
genthums, der Servitut, Obligation u. s. w. im römischen Recht
und mithin auch die begriffliche Construction des Stoffs von
Seiten der römischen Juristen ist römisch, wie sehr man auch
in der Verehrung vor dem römischen Recht sich oft dagegen ver-
schlossen und in erklärlicher Selbsttäuschung sich das Römische
als das Absolute zu deduciren versucht hat. Aber wie lang hat
dies Römische vorgehalten! Die aufgeführten Begriffe gelten
heutzutage im wesentlichen fast ebenso, wie vor anderthalb Jahr-
tausenden, und, was mehr ist, das römische Recht bietet uns
selbst für Verhältnisse und Fragen, die erst die moderne Welt
gebracht hat, vielfach völlig ausreichende Entscheidungsnormen.
Erklärlich genug, daß der Glaube an den absoluten Charakter
des römischen Rechts, jene Idealisirung desselben zu einer ratio
scripta,
einer geoffenbarten Vernunft in Dingen des Rechts,
schon so früh Wurzel schlagen und sich bei einzelnen Schwär-
mern selbst bis auf den heutigen Tag erhalten konnte!

Daß nun trotz der angegebenen Verschiedenheiten zwischen
dem Rechts- und Sprach-Alphabet ersteres dennoch den Namen
eines Alphabets verdient, bedarf wohl keiner Bemerkung. Will
man es einen Vergleich nennen, so gibt es wenigstens keinen,
der treffender wäre und geeigneter, dem Unkundigen das Wesen
und Walten der analytischen Kraft im Recht mit Einem Worte
zu veranschaulichen. So einfach und natürlich aber selbst einem
Laien die Sache mittelst dieses Vergleichs erscheinen wird, so
kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Grunde
der Laie für jene Methode der Zersetzung, die ihm bei der von
mir gewählten Einkleidung so natürlich erscheint, von vornher-
ein nicht bloß kein Verständniß besitzt, sondern sich zu ihr ent-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ſich nicht bloß die Beſchaffenheit und Bedeutung unſerer vor-
handenen Rechts-Buchſtaben, ſondern die Zeit bringt uns völlig
neue und ſtreicht die alten aus. Wie ſehr aber dennoch ein ein-
zelnes Rechtsalphabet bei aller ſeiner Poſitivität den Einflüſſen
von Zeit und Ort zu trotzen vermag, davon gibt uns das römi-
ſche ein ſchlagendes Beiſpiel. Die praktiſche Geſtaltung des Ei-
genthums, der Servitut, Obligation u. ſ. w. im römiſchen Recht
und mithin auch die begriffliche Conſtruction des Stoffs von
Seiten der römiſchen Juriſten iſt römiſch, wie ſehr man auch
in der Verehrung vor dem römiſchen Recht ſich oft dagegen ver-
ſchloſſen und in erklärlicher Selbſttäuſchung ſich das Römiſche
als das Abſolute zu deduciren verſucht hat. Aber wie lang hat
dies Römiſche vorgehalten! Die aufgeführten Begriffe gelten
heutzutage im weſentlichen faſt ebenſo, wie vor anderthalb Jahr-
tauſenden, und, was mehr iſt, das römiſche Recht bietet uns
ſelbſt für Verhältniſſe und Fragen, die erſt die moderne Welt
gebracht hat, vielfach völlig ausreichende Entſcheidungsnormen.
Erklärlich genug, daß der Glaube an den abſoluten Charakter
des römiſchen Rechts, jene Idealiſirung deſſelben zu einer ratio
scripta,
einer geoffenbarten Vernunft in Dingen des Rechts,
ſchon ſo früh Wurzel ſchlagen und ſich bei einzelnen Schwär-
mern ſelbſt bis auf den heutigen Tag erhalten konnte!

Daß nun trotz der angegebenen Verſchiedenheiten zwiſchen
dem Rechts- und Sprach-Alphabet erſteres dennoch den Namen
eines Alphabets verdient, bedarf wohl keiner Bemerkung. Will
man es einen Vergleich nennen, ſo gibt es wenigſtens keinen,
der treffender wäre und geeigneter, dem Unkundigen das Weſen
und Walten der analytiſchen Kraft im Recht mit Einem Worte
zu veranſchaulichen. So einfach und natürlich aber ſelbſt einem
Laien die Sache mittelſt dieſes Vergleichs erſcheinen wird, ſo
kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Grunde
der Laie für jene Methode der Zerſetzung, die ihm bei der von
mir gewählten Einkleidung ſo natürlich erſcheint, von vornher-
ein nicht bloß kein Verſtändniß beſitzt, ſondern ſich zu ihr ent-

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[376/0082] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. ſich nicht bloß die Beſchaffenheit und Bedeutung unſerer vor- handenen Rechts-Buchſtaben, ſondern die Zeit bringt uns völlig neue und ſtreicht die alten aus. Wie ſehr aber dennoch ein ein- zelnes Rechtsalphabet bei aller ſeiner Poſitivität den Einflüſſen von Zeit und Ort zu trotzen vermag, davon gibt uns das römi- ſche ein ſchlagendes Beiſpiel. Die praktiſche Geſtaltung des Ei- genthums, der Servitut, Obligation u. ſ. w. im römiſchen Recht und mithin auch die begriffliche Conſtruction des Stoffs von Seiten der römiſchen Juriſten iſt römiſch, wie ſehr man auch in der Verehrung vor dem römiſchen Recht ſich oft dagegen ver- ſchloſſen und in erklärlicher Selbſttäuſchung ſich das Römiſche als das Abſolute zu deduciren verſucht hat. Aber wie lang hat dies Römiſche vorgehalten! Die aufgeführten Begriffe gelten heutzutage im weſentlichen faſt ebenſo, wie vor anderthalb Jahr- tauſenden, und, was mehr iſt, das römiſche Recht bietet uns ſelbſt für Verhältniſſe und Fragen, die erſt die moderne Welt gebracht hat, vielfach völlig ausreichende Entſcheidungsnormen. Erklärlich genug, daß der Glaube an den abſoluten Charakter des römiſchen Rechts, jene Idealiſirung deſſelben zu einer ratio scripta, einer geoffenbarten Vernunft in Dingen des Rechts, ſchon ſo früh Wurzel ſchlagen und ſich bei einzelnen Schwär- mern ſelbſt bis auf den heutigen Tag erhalten konnte! Daß nun trotz der angegebenen Verſchiedenheiten zwiſchen dem Rechts- und Sprach-Alphabet erſteres dennoch den Namen eines Alphabets verdient, bedarf wohl keiner Bemerkung. Will man es einen Vergleich nennen, ſo gibt es wenigſtens keinen, der treffender wäre und geeigneter, dem Unkundigen das Weſen und Walten der analytiſchen Kraft im Recht mit Einem Worte zu veranſchaulichen. So einfach und natürlich aber ſelbſt einem Laien die Sache mittelſt dieſes Vergleichs erſcheinen wird, ſo kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Grunde der Laie für jene Methode der Zerſetzung, die ihm bei der von mir gewählten Einkleidung ſo natürlich erſcheint, von vornher- ein nicht bloß kein Verſtändniß beſitzt, ſondern ſich zu ihr ent-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/82>, abgerufen am 22.11.2024.