Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Die juristische Analyse. §. 39.
zelnes ist es eben zu klein und gering. Für die technische
Beurtheilung der Rechte ist das Verhältniß, in dem sich in ihnen
die abstracte und locale Rechtsproduction bethätigt haben, ein
ganz entscheidender Gesichtspunkt. Je mehr erstere in einem Recht
überwiegt, je größer mithin die Summe der allgemeinen
Bestandtheile in demselben ist, je weniger das Allgemeine zu
Gunsten einzelner Verhältnisse durchbrochen ist, um so mehr hat
sich in demselben das Ideal der juristischen Technik d. h. die
Idee des Alphabets verwirklicht. Denn die allgemeinen Bestand-
theile eines Rechts sind, wie wir nachher zeigen werden, die
eigentlichen Buchstaben des Rechts, die localen Rechtssätze
keine Buchstaben, sondern Zeichen für ein einzelnes Wort.

Auf jedem Gebiet der Erkenntniß erblickt und gewinnt der
menschliche Geist früher das Concrete, als das Abstracte. Darum
erscheinen auch im Recht die concreten Parthien d. h. die Rechts-
sätze für einzelne Rechtsverhältnisse historisch ungleich früher ent-
wickelt, als die abstracten Parthien. Bevor letztere in ihrer wah-
ren d. h. allgemeinen Form von der Gesetzgebung oder Wissen-
schaft erkannt und ausgesprochen sind, haben sie nicht selten eine
lange Vorgeschichte durchmachen, verschiedene Phasen zurück-
legen müssen. Diese Entwickelungsgeschichte derselben gehört zu
den interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Rechts-
geschichte, und es ist uns um so nöthiger dieselbe kennen zu ler-
nen, als an ihr eine der wichtigsten Aufgaben und Operationen
der juristischen Technik zu Tage tritt.

Die Erscheinung, die ich meine und zu der uns nicht bloß
die Geschichte des römischen, sondern eines jeden Rechts eine
Reihe von Beispielen liefert, besteht darin, daß ein abstracter
Gedanke ursprünglich erst in beschränkter Weise bei einem einzel-
nen Punkt, den ich den historischen Durchbruchspunkt 495)

495) Nicht zu verwechseln mit dem Einfluß, den irgend ein besonderes
Verhältniß, Interesse u. s. w. auf die Hervorbringung eines allgemeinen
Rechtssatzes ausüben kann. Als historisches Motiv der Einführung der Codi-

1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39.
zelnes iſt es eben zu klein und gering. Für die techniſche
Beurtheilung der Rechte iſt das Verhältniß, in dem ſich in ihnen
die abſtracte und locale Rechtsproduction bethätigt haben, ein
ganz entſcheidender Geſichtspunkt. Je mehr erſtere in einem Recht
überwiegt, je größer mithin die Summe der allgemeinen
Beſtandtheile in demſelben iſt, je weniger das Allgemeine zu
Gunſten einzelner Verhältniſſe durchbrochen iſt, um ſo mehr hat
ſich in demſelben das Ideal der juriſtiſchen Technik d. h. die
Idee des Alphabets verwirklicht. Denn die allgemeinen Beſtand-
theile eines Rechts ſind, wie wir nachher zeigen werden, die
eigentlichen Buchſtaben des Rechts, die localen Rechtsſätze
keine Buchſtaben, ſondern Zeichen für ein einzelnes Wort.

Auf jedem Gebiet der Erkenntniß erblickt und gewinnt der
menſchliche Geiſt früher das Concrete, als das Abſtracte. Darum
erſcheinen auch im Recht die concreten Parthien d. h. die Rechts-
ſätze für einzelne Rechtsverhältniſſe hiſtoriſch ungleich früher ent-
wickelt, als die abſtracten Parthien. Bevor letztere in ihrer wah-
ren d. h. allgemeinen Form von der Geſetzgebung oder Wiſſen-
ſchaft erkannt und ausgeſprochen ſind, haben ſie nicht ſelten eine
lange Vorgeſchichte durchmachen, verſchiedene Phaſen zurück-
legen müſſen. Dieſe Entwickelungsgeſchichte derſelben gehört zu
den intereſſanteſten Erſcheinungen auf dem Gebiete der Rechts-
geſchichte, und es iſt uns um ſo nöthiger dieſelbe kennen zu ler-
nen, als an ihr eine der wichtigſten Aufgaben und Operationen
der juriſtiſchen Technik zu Tage tritt.

Die Erſcheinung, die ich meine und zu der uns nicht bloß
die Geſchichte des römiſchen, ſondern eines jeden Rechts eine
Reihe von Beiſpielen liefert, beſteht darin, daß ein abſtracter
Gedanke urſprünglich erſt in beſchränkter Weiſe bei einem einzel-
nen Punkt, den ich den hiſtoriſchen Durchbruchspunkt 495)

495) Nicht zu verwechſeln mit dem Einfluß, den irgend ein beſonderes
Verhältniß, Intereſſe u. ſ. w. auf die Hervorbringung eines allgemeinen
Rechtsſatzes ausüben kann. Als hiſtoriſches Motiv der Einführung der Codi-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0071" n="365"/><fw place="top" type="header">1. Die juri&#x017F;ti&#x017F;che Analy&#x017F;e. §. 39.</fw><lb/>
zelnes i&#x017F;t es eben zu klein und gering. Für die <hi rendition="#g">techni&#x017F;che</hi><lb/>
Beurtheilung der Rechte i&#x017F;t das Verhältniß, in dem &#x017F;ich in ihnen<lb/>
die ab&#x017F;tracte und locale Rechtsproduction bethätigt haben, ein<lb/>
ganz ent&#x017F;cheidender Ge&#x017F;ichtspunkt. Je mehr er&#x017F;tere in einem Recht<lb/>
überwiegt, je größer mithin die Summe der <hi rendition="#g">allgemeinen</hi><lb/>
Be&#x017F;tandtheile in dem&#x017F;elben i&#x017F;t, je weniger das Allgemeine zu<lb/>
Gun&#x017F;ten einzelner Verhältni&#x017F;&#x017F;e durchbrochen i&#x017F;t, um &#x017F;o mehr hat<lb/>
&#x017F;ich in dem&#x017F;elben das Ideal der juri&#x017F;ti&#x017F;chen Technik d. h. die<lb/>
Idee des Alphabets verwirklicht. Denn die allgemeinen Be&#x017F;tand-<lb/>
theile eines Rechts &#x017F;ind, wie wir nachher zeigen werden, die<lb/>
eigentlichen <hi rendition="#g">Buch&#x017F;taben</hi> des Rechts, die localen Rechts&#x017F;ätze<lb/>
keine Buch&#x017F;taben, &#x017F;ondern Zeichen für ein einzelnes Wort.</p><lb/>
                    <p>Auf jedem Gebiet der Erkenntniß erblickt und gewinnt der<lb/>
men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t früher das Concrete, als das Ab&#x017F;tracte. Darum<lb/>
er&#x017F;cheinen auch im Recht die concreten Parthien d. h. die Rechts-<lb/>
&#x017F;ätze für einzelne Rechtsverhältni&#x017F;&#x017F;e hi&#x017F;tori&#x017F;ch ungleich früher ent-<lb/>
wickelt, als die ab&#x017F;tracten Parthien. Bevor letztere in ihrer wah-<lb/>
ren d. h. allgemeinen Form von der Ge&#x017F;etzgebung oder Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft erkannt und ausge&#x017F;prochen &#x017F;ind, haben &#x017F;ie nicht &#x017F;elten eine<lb/>
lange Vorge&#x017F;chichte durchmachen, ver&#x017F;chiedene Pha&#x017F;en zurück-<lb/>
legen mü&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;e Entwickelungsge&#x017F;chichte der&#x017F;elben gehört zu<lb/>
den intere&#x017F;&#x017F;ante&#x017F;ten Er&#x017F;cheinungen auf dem Gebiete der Rechts-<lb/>
ge&#x017F;chichte, und es i&#x017F;t uns um &#x017F;o nöthiger die&#x017F;elbe kennen zu ler-<lb/>
nen, als an ihr eine der wichtig&#x017F;ten Aufgaben und Operationen<lb/>
der juri&#x017F;ti&#x017F;chen Technik zu Tage tritt.</p><lb/>
                    <p>Die Er&#x017F;cheinung, die ich meine und zu der uns nicht bloß<lb/>
die Ge&#x017F;chichte des römi&#x017F;chen, &#x017F;ondern eines jeden Rechts eine<lb/>
Reihe von Bei&#x017F;pielen liefert, be&#x017F;teht darin, daß ein ab&#x017F;tracter<lb/>
Gedanke ur&#x017F;prünglich er&#x017F;t in be&#x017F;chränkter Wei&#x017F;e bei einem einzel-<lb/>
nen Punkt, den ich den <hi rendition="#g">hi&#x017F;tori&#x017F;chen Durchbruchspunkt</hi> <note xml:id="seg2pn_7_1" next="#seg2pn_7_2" place="foot" n="495)">Nicht zu verwech&#x017F;eln mit dem Einfluß, den irgend ein be&#x017F;onderes<lb/>
Verhältniß, Intere&#x017F;&#x017F;e u. &#x017F;. w. auf die Hervorbringung eines <hi rendition="#g">allgemeinen</hi><lb/>
Rechts&#x017F;atzes ausüben kann. Als hi&#x017F;tori&#x017F;ches Motiv der Einführung der Codi-</note><lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[365/0071] 1. Die juriſtiſche Analyſe. §. 39. zelnes iſt es eben zu klein und gering. Für die techniſche Beurtheilung der Rechte iſt das Verhältniß, in dem ſich in ihnen die abſtracte und locale Rechtsproduction bethätigt haben, ein ganz entſcheidender Geſichtspunkt. Je mehr erſtere in einem Recht überwiegt, je größer mithin die Summe der allgemeinen Beſtandtheile in demſelben iſt, je weniger das Allgemeine zu Gunſten einzelner Verhältniſſe durchbrochen iſt, um ſo mehr hat ſich in demſelben das Ideal der juriſtiſchen Technik d. h. die Idee des Alphabets verwirklicht. Denn die allgemeinen Beſtand- theile eines Rechts ſind, wie wir nachher zeigen werden, die eigentlichen Buchſtaben des Rechts, die localen Rechtsſätze keine Buchſtaben, ſondern Zeichen für ein einzelnes Wort. Auf jedem Gebiet der Erkenntniß erblickt und gewinnt der menſchliche Geiſt früher das Concrete, als das Abſtracte. Darum erſcheinen auch im Recht die concreten Parthien d. h. die Rechts- ſätze für einzelne Rechtsverhältniſſe hiſtoriſch ungleich früher ent- wickelt, als die abſtracten Parthien. Bevor letztere in ihrer wah- ren d. h. allgemeinen Form von der Geſetzgebung oder Wiſſen- ſchaft erkannt und ausgeſprochen ſind, haben ſie nicht ſelten eine lange Vorgeſchichte durchmachen, verſchiedene Phaſen zurück- legen müſſen. Dieſe Entwickelungsgeſchichte derſelben gehört zu den intereſſanteſten Erſcheinungen auf dem Gebiete der Rechts- geſchichte, und es iſt uns um ſo nöthiger dieſelbe kennen zu ler- nen, als an ihr eine der wichtigſten Aufgaben und Operationen der juriſtiſchen Technik zu Tage tritt. Die Erſcheinung, die ich meine und zu der uns nicht bloß die Geſchichte des römiſchen, ſondern eines jeden Rechts eine Reihe von Beiſpielen liefert, beſteht darin, daß ein abſtracter Gedanke urſprünglich erſt in beſchränkter Weiſe bei einem einzel- nen Punkt, den ich den hiſtoriſchen Durchbruchspunkt 495) 495) Nicht zu verwechſeln mit dem Einfluß, den irgend ein beſonderes Verhältniß, Intereſſe u. ſ. w. auf die Hervorbringung eines allgemeinen Rechtsſatzes ausüben kann. Als hiſtoriſches Motiv der Einführung der Codi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/71
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 365. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/71>, abgerufen am 24.11.2024.