Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem. ander getrennt, aber die Spitzen berühren sich und verzweigensich oft in einer Weise, daß im einzelnen Fall schwer zu erkennen, ob dieses oder jenes Verhältniß vorliegt und daß ein unbedeu- tendes Moment, eine kleine Nüance des Willensinhalts oder Ausdrucks hier den Ausschlag geben kann. Dem Laien erscheint das als Spitzfindigkeit; der Vorwurf ist aber so begreiflich und eben so unbegründet, als wenn ein Ungebildeter einem Chemiker die Sorgsamkeit und Genauigkeit im Wägen als Pedanterie an- rechnen wollte. Je feiner und zarter die Gegenstände sind, die wir zu wägen haben, um so genauer müssen die Gewichte sein; die Wissenschaft kann nicht mehr mit Pfunden wägen, wenn die Gegenstände selbst nur um Lothe differiren. Daß aber eine Diffe- renz von einem Loth im praktischen Resultat einen höchst wich- tigen Unterschied begründen kann, das ist eben nicht unsere Schuld, sondern der Dinge selbst. Je mehr nun, wie gesagt, die feinere Durchbildung der Be- lation aus wäre eine solche Genauigkeit keineswegs erforderlich, allein selbst
wenn sie statt etwas Wünschenswerthes etwas Nachtheiliges wäre -- die Ju- risprudenz kann sich dem einmal nicht entziehen, es ist die Logik des Verhält- nisses, die sie weiter treibt. Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. ander getrennt, aber die Spitzen berühren ſich und verzweigenſich oft in einer Weiſe, daß im einzelnen Fall ſchwer zu erkennen, ob dieſes oder jenes Verhältniß vorliegt und daß ein unbedeu- tendes Moment, eine kleine Nüance des Willensinhalts oder Ausdrucks hier den Ausſchlag geben kann. Dem Laien erſcheint das als Spitzfindigkeit; der Vorwurf iſt aber ſo begreiflich und eben ſo unbegründet, als wenn ein Ungebildeter einem Chemiker die Sorgſamkeit und Genauigkeit im Wägen als Pedanterie an- rechnen wollte. Je feiner und zarter die Gegenſtände ſind, die wir zu wägen haben, um ſo genauer müſſen die Gewichte ſein; die Wiſſenſchaft kann nicht mehr mit Pfunden wägen, wenn die Gegenſtände ſelbſt nur um Lothe differiren. Daß aber eine Diffe- renz von einem Loth im praktiſchen Reſultat einen höchſt wich- tigen Unterſchied begründen kann, das iſt eben nicht unſere Schuld, ſondern der Dinge ſelbſt. Je mehr nun, wie geſagt, die feinere Durchbildung der Be- lation aus wäre eine ſolche Genauigkeit keineswegs erforderlich, allein ſelbſt
wenn ſie ſtatt etwas Wünſchenswerthes etwas Nachtheiliges wäre — die Ju- risprudenz kann ſich dem einmal nicht entziehen, es iſt die Logik des Verhält- niſſes, die ſie weiter treibt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0062" n="356"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juriſt. Technik. <hi rendition="#aq">A.</hi> Im allgem.</fw><lb/> ander getrennt, aber die Spitzen berühren ſich und verzweigen<lb/> ſich oft in einer Weiſe, daß im einzelnen Fall ſchwer zu erkennen,<lb/> ob dieſes oder jenes Verhältniß vorliegt und daß ein unbedeu-<lb/> tendes Moment, eine kleine Nüance des Willensinhalts oder<lb/> Ausdrucks hier den Ausſchlag geben kann. Dem Laien erſcheint<lb/> das als Spitzfindigkeit; der Vorwurf iſt aber ſo begreiflich und<lb/> eben ſo unbegründet, als wenn ein Ungebildeter einem Chemiker<lb/> die Sorgſamkeit und Genauigkeit im Wägen als Pedanterie an-<lb/> rechnen wollte. Je feiner und zarter die Gegenſtände ſind, die<lb/> wir zu wägen haben, um ſo genauer müſſen die Gewichte ſein;<lb/> die Wiſſenſchaft kann nicht mehr mit Pfunden wägen, wenn die<lb/> Gegenſtände ſelbſt nur um Lothe differiren. Daß aber eine Diffe-<lb/> renz von einem Loth im praktiſchen Reſultat einen höchſt wich-<lb/> tigen Unterſchied begründen kann, das iſt eben nicht unſere<lb/> Schuld, ſondern der Dinge ſelbſt.</p><lb/> <p>Je mehr nun, wie geſagt, die feinere Durchbildung der Be-<lb/> griffe die Unterſcheidung derſelben im concreten Fall erſchwert,<lb/> um ſo mehr wird die Anwendung des Rechts den Charakter<lb/> einer eignen <hi rendition="#g">Kunſt</hi> annehmen, einer Kunſt, die mit der theore-<lb/> tiſchen Kenntniß des Rechts keineswegs gegeben iſt, ſondern<lb/> einer beſonderen Anſtrengung und vieljähriger Uebung bedarf.<lb/> Dieſe Kunſt der juriſtiſchen Diagnoſe, ohne die das theoretiſche<lb/> Wiſſen ein Beſitz iſt, mit dem man im Leben nicht operiren kann,<lb/> iſt vielleicht in noch höherem Grade als das erforderliche <hi rendition="#g">Wiſ-<lb/> ſen</hi> der Umſtand, der den Laien vom Juriſten ſcheidet und ihm<lb/> die Hülfe des letzteren unentbehrlich macht. Die Hauptſache bei<lb/> dieſer Kunſt muß allerdings die eigene Uebung thun, allein die<lb/> Wiſſenſchaft kann dennoch bis zu einem gewiſſen Grade hülf-<lb/> reiche Hand leiſten. Sie ſoll nämlich die Kriterien, an denen<lb/><note xml:id="seg2pn_6_2" prev="#seg2pn_6_1" place="foot" n="489)">lation aus wäre eine ſolche Genauigkeit keineswegs erforderlich, allein ſelbſt<lb/> wenn ſie ſtatt etwas Wünſchenswerthes etwas Nachtheiliges wäre — die Ju-<lb/> risprudenz kann ſich dem einmal nicht entziehen, es iſt die Logik des Verhält-<lb/> niſſes, die ſie weiter treibt.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [356/0062]
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
ander getrennt, aber die Spitzen berühren ſich und verzweigen
ſich oft in einer Weiſe, daß im einzelnen Fall ſchwer zu erkennen,
ob dieſes oder jenes Verhältniß vorliegt und daß ein unbedeu-
tendes Moment, eine kleine Nüance des Willensinhalts oder
Ausdrucks hier den Ausſchlag geben kann. Dem Laien erſcheint
das als Spitzfindigkeit; der Vorwurf iſt aber ſo begreiflich und
eben ſo unbegründet, als wenn ein Ungebildeter einem Chemiker
die Sorgſamkeit und Genauigkeit im Wägen als Pedanterie an-
rechnen wollte. Je feiner und zarter die Gegenſtände ſind, die
wir zu wägen haben, um ſo genauer müſſen die Gewichte ſein;
die Wiſſenſchaft kann nicht mehr mit Pfunden wägen, wenn die
Gegenſtände ſelbſt nur um Lothe differiren. Daß aber eine Diffe-
renz von einem Loth im praktiſchen Reſultat einen höchſt wich-
tigen Unterſchied begründen kann, das iſt eben nicht unſere
Schuld, ſondern der Dinge ſelbſt.
Je mehr nun, wie geſagt, die feinere Durchbildung der Be-
griffe die Unterſcheidung derſelben im concreten Fall erſchwert,
um ſo mehr wird die Anwendung des Rechts den Charakter
einer eignen Kunſt annehmen, einer Kunſt, die mit der theore-
tiſchen Kenntniß des Rechts keineswegs gegeben iſt, ſondern
einer beſonderen Anſtrengung und vieljähriger Uebung bedarf.
Dieſe Kunſt der juriſtiſchen Diagnoſe, ohne die das theoretiſche
Wiſſen ein Beſitz iſt, mit dem man im Leben nicht operiren kann,
iſt vielleicht in noch höherem Grade als das erforderliche Wiſ-
ſen der Umſtand, der den Laien vom Juriſten ſcheidet und ihm
die Hülfe des letzteren unentbehrlich macht. Die Hauptſache bei
dieſer Kunſt muß allerdings die eigene Uebung thun, allein die
Wiſſenſchaft kann dennoch bis zu einem gewiſſen Grade hülf-
reiche Hand leiſten. Sie ſoll nämlich die Kriterien, an denen
489)
489) lation aus wäre eine ſolche Genauigkeit keineswegs erforderlich, allein ſelbſt
wenn ſie ſtatt etwas Wünſchenswerthes etwas Nachtheiliges wäre — die Ju-
risprudenz kann ſich dem einmal nicht entziehen, es iſt die Logik des Verhält-
niſſes, die ſie weiter treibt.
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