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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
Operation der concreten Bestimmung jener Momente; je äußer-
licher, desto leichter. Die innere, rechtsphilosophische Vollkom-
menheit des Gedankens oder die rationelle Genauigkeit und die
praktische Brauchbarkeit des Gesetzes stehen hier vielfach im um-
gekehrten Verhältniß. Der Gesetzgeber kann den Gedanken nicht
in seiner abstracten Reinheit zum Gesetz erheben, er muß etwas
ablassen davon, der Gedanke muß, so zu sagen, eine gröbere,
handfestere Constitution bekommen, damit er sich leichter im Le-
ben realisire -- eine Beobachtung, die bereits Cicero 483) ge-
macht, die aber die Wissenschaft sowohl wie die Gesetzgebung
nicht selten viel zu wenig beachtet hat. Ich will der Wichtigkeit
der Sache wegen zu meinen frühern Beispielen noch einige an-
dere hinzufügen.

Die geistige und körperliche Reife tritt bei verschiedenen In-
dividuen bekanntlich nicht in demselben Zeitpunkt ein, rechtsphi-
losophisch ließe es sich also nicht rechtfertigen, daß die Periode
der infantia, Impubertät und Minderjährigkeit abstract für alle
gleich bestimmt ist. Allein wenn nun dem entsprechend der Ge-
setzgeber es dem Richter überlassen wollte, jene drei Stufen im
einzelnen nach der individuellen Reife zu bestimmen: wie völlig
verkehrt würde dies sein, welche Schwierigkeiten würde es ma-
chen, welche Ungleichheit der Entscheidungen würde sich ergeben,
wie unberechenbar würden letztere im einzelnen Fall sein, und
wie viel Mühe und Arbeit würde um eines praktisch unendlich
geringen Gewinnes wegen consumirt werden! Darum hat das
römische Recht sehr verständig feste Gränzen gesetzt und nur in
einigen Beziehungen die Möglichkeit einer individuellen Abwei-
chung offen gelassen. 484)

483) Ich habe die Stelle erst nach dem Erscheinen des ersten Bandes ge-
funden, sonst würde ich sie dort bereits benutzt haben. Es ist Cic. de off. III
17: Aliter leges, aliter philosophi tollunt astutias; leges, quatenus
manu tenere possunt, philosophi, quatenus ratione et intelligentia.
484) Infantiae und pubertati proximi und venia aetatis. Interessant
ist in Bezug auf den obigen Gesichtspunkt namentlich die Geschichte der Be-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
Operation der concreten Beſtimmung jener Momente; je äußer-
licher, deſto leichter. Die innere, rechtsphiloſophiſche Vollkom-
menheit des Gedankens oder die rationelle Genauigkeit und die
praktiſche Brauchbarkeit des Geſetzes ſtehen hier vielfach im um-
gekehrten Verhältniß. Der Geſetzgeber kann den Gedanken nicht
in ſeiner abſtracten Reinheit zum Geſetz erheben, er muß etwas
ablaſſen davon, der Gedanke muß, ſo zu ſagen, eine gröbere,
handfeſtere Conſtitution bekommen, damit er ſich leichter im Le-
ben realiſire — eine Beobachtung, die bereits Cicero 483) ge-
macht, die aber die Wiſſenſchaft ſowohl wie die Geſetzgebung
nicht ſelten viel zu wenig beachtet hat. Ich will der Wichtigkeit
der Sache wegen zu meinen frühern Beiſpielen noch einige an-
dere hinzufügen.

Die geiſtige und körperliche Reife tritt bei verſchiedenen In-
dividuen bekanntlich nicht in demſelben Zeitpunkt ein, rechtsphi-
loſophiſch ließe es ſich alſo nicht rechtfertigen, daß die Periode
der infantia, Impubertät und Minderjährigkeit abſtract für alle
gleich beſtimmt iſt. Allein wenn nun dem entſprechend der Ge-
ſetzgeber es dem Richter überlaſſen wollte, jene drei Stufen im
einzelnen nach der individuellen Reife zu beſtimmen: wie völlig
verkehrt würde dies ſein, welche Schwierigkeiten würde es ma-
chen, welche Ungleichheit der Entſcheidungen würde ſich ergeben,
wie unberechenbar würden letztere im einzelnen Fall ſein, und
wie viel Mühe und Arbeit würde um eines praktiſch unendlich
geringen Gewinnes wegen conſumirt werden! Darum hat das
römiſche Recht ſehr verſtändig feſte Gränzen geſetzt und nur in
einigen Beziehungen die Möglichkeit einer individuellen Abwei-
chung offen gelaſſen. 484)

483) Ich habe die Stelle erſt nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ge-
funden, ſonſt würde ich ſie dort bereits benutzt haben. Es iſt Cic. de off. III
17: Aliter leges, aliter philosophi tollunt astutias; leges, quatenus
manu tenere possunt, philosophi, quatenus ratione et intelligentia.
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iſt in Bezug auf den obigen Geſichtspunkt namentlich die Geſchichte der Be-
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[348/0054] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. Operation der concreten Beſtimmung jener Momente; je äußer- licher, deſto leichter. Die innere, rechtsphiloſophiſche Vollkom- menheit des Gedankens oder die rationelle Genauigkeit und die praktiſche Brauchbarkeit des Geſetzes ſtehen hier vielfach im um- gekehrten Verhältniß. Der Geſetzgeber kann den Gedanken nicht in ſeiner abſtracten Reinheit zum Geſetz erheben, er muß etwas ablaſſen davon, der Gedanke muß, ſo zu ſagen, eine gröbere, handfeſtere Conſtitution bekommen, damit er ſich leichter im Le- ben realiſire — eine Beobachtung, die bereits Cicero 483) ge- macht, die aber die Wiſſenſchaft ſowohl wie die Geſetzgebung nicht ſelten viel zu wenig beachtet hat. Ich will der Wichtigkeit der Sache wegen zu meinen frühern Beiſpielen noch einige an- dere hinzufügen. Die geiſtige und körperliche Reife tritt bei verſchiedenen In- dividuen bekanntlich nicht in demſelben Zeitpunkt ein, rechtsphi- loſophiſch ließe es ſich alſo nicht rechtfertigen, daß die Periode der infantia, Impubertät und Minderjährigkeit abſtract für alle gleich beſtimmt iſt. Allein wenn nun dem entſprechend der Ge- ſetzgeber es dem Richter überlaſſen wollte, jene drei Stufen im einzelnen nach der individuellen Reife zu beſtimmen: wie völlig verkehrt würde dies ſein, welche Schwierigkeiten würde es ma- chen, welche Ungleichheit der Entſcheidungen würde ſich ergeben, wie unberechenbar würden letztere im einzelnen Fall ſein, und wie viel Mühe und Arbeit würde um eines praktiſch unendlich geringen Gewinnes wegen conſumirt werden! Darum hat das römiſche Recht ſehr verſtändig feſte Gränzen geſetzt und nur in einigen Beziehungen die Möglichkeit einer individuellen Abwei- chung offen gelaſſen. 484) 483) Ich habe die Stelle erſt nach dem Erſcheinen des erſten Bandes ge- funden, ſonſt würde ich ſie dort bereits benutzt haben. Es iſt Cic. de off. III 17: Aliter leges, aliter philosophi tollunt astutias; leges, quatenus manu tenere possunt, philosophi, quatenus ratione et intelligentia. 484) Infantiae und pubertati proximi und venia aetatis. Intereſſant iſt in Bezug auf den obigen Geſichtspunkt namentlich die Geſchichte der Be-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/54>, abgerufen am 22.11.2024.