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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.

Dem Verkehr ward es weniger leicht, sich von dem lästigen
Requisit der Anwesenheit in Rom zu befreien. Vollständig ge-
lang es ihm nur rücksichtlich der Testamentsform; das von ihm
erfundene Mancipationstestament, welches neben andern Vor-
zügen auch den der Ortsentbindung von Rom enthielt, trat ganz
an die Stelle der ältern Form. Rücksichtlich der übrigen Ge-
schäfte vermochte er sich, so lange der Prätor sich nicht ins Mit-
tel legte, nur in unvollkommner Weise zu helfen, nämlich durch
factische Vornahme der Geschäfte außerhalb Roms und den
Schutz, den die Sitte ihnen gewährte (S. 514). Das Haupt-
beispiel bieten die Freilassungen. Man erklärte den Sklaven vor
Zeugen für frei (manumissio inter amicos) und behandelte ihn
fortan als solchen, bis sich Zeit und Gelegenheit fand, in Rom
vor dem Censor oder Prätor den Act in aller Form Rechtens zu
wiederholen. 935) Ein anderes Beispiel liefert die obrigkeitliche
Bestellung eines Vormundes nach der lex Atilia (tutor Atilia-
nus)
. Sie mußte in Rom geschehen. 936) Bis man zur Reise
nach Rom Zeit fand, verwaltete, wie es bis zum Erscheinen des
Gesetzes immer der Fall gewesen, irgend eine dem Pupillen nahe
stehende Person factisch das Amt des Tutors. Auch hier
gab später der Prätor dem Factischen rechtliche Gestalt, näm-
lich mittelst der Bestimmungen des Edicts über factische Tuto-
ren (Protutoren). 937)

Für den Civilproceß gab es, um sich der Reise nach Rom
zu entziehen, keinen andern Ausweg, als Vereinigung beider
Partheien über schiedsrichterliche Entscheidung. Es gehörte zum
Begriff des "lege agere" und des judicium legitimum, daß der

935) Das geschah auch noch in späterer Zeit, nachdem die lex Junia
Norbana
die unvollkommen Freilassungen gesetzlich anerkannt hatte s. z. B.
Plin. Ep. VII, 16. Si voles vindicta liberare, quos proxime inter amicos
manumisisti.
936) Gegen die Meinung, daß sie sich auf stadt sässige Pupillen be-
schränkt habe (Rudorff Recht der Vormundschaft B. 1 §. 47) s. Th. Mommsen
die Stadtrechte der latin. Gemeinden Salpensa und Malaca S. 438.
937) Dig. XXVII, 5 und 6.
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.

Dem Verkehr ward es weniger leicht, ſich von dem läſtigen
Requiſit der Anweſenheit in Rom zu befreien. Vollſtändig ge-
lang es ihm nur rückſichtlich der Teſtamentsform; das von ihm
erfundene Mancipationsteſtament, welches neben andern Vor-
zügen auch den der Ortsentbindung von Rom enthielt, trat ganz
an die Stelle der ältern Form. Rückſichtlich der übrigen Ge-
ſchäfte vermochte er ſich, ſo lange der Prätor ſich nicht ins Mit-
tel legte, nur in unvollkommner Weiſe zu helfen, nämlich durch
factiſche Vornahme der Geſchäfte außerhalb Roms und den
Schutz, den die Sitte ihnen gewährte (S. 514). Das Haupt-
beiſpiel bieten die Freilaſſungen. Man erklärte den Sklaven vor
Zeugen für frei (manumissio inter amicos) und behandelte ihn
fortan als ſolchen, bis ſich Zeit und Gelegenheit fand, in Rom
vor dem Cenſor oder Prätor den Act in aller Form Rechtens zu
wiederholen. 935) Ein anderes Beiſpiel liefert die obrigkeitliche
Beſtellung eines Vormundes nach der lex Atilia (tutor Atilia-
nus)
. Sie mußte in Rom geſchehen. 936) Bis man zur Reiſe
nach Rom Zeit fand, verwaltete, wie es bis zum Erſcheinen des
Geſetzes immer der Fall geweſen, irgend eine dem Pupillen nahe
ſtehende Perſon factiſch das Amt des Tutors. Auch hier
gab ſpäter der Prätor dem Factiſchen rechtliche Geſtalt, näm-
lich mittelſt der Beſtimmungen des Edicts über factiſche Tuto-
ren (Protutoren). 937)

Für den Civilproceß gab es, um ſich der Reiſe nach Rom
zu entziehen, keinen andern Ausweg, als Vereinigung beider
Partheien über ſchiedsrichterliche Entſcheidung. Es gehörte zum
Begriff des „lege agere“ und des judicium legitimum, daß der

935) Das geſchah auch noch in ſpäterer Zeit, nachdem die lex Junia
Norbana
die unvollkommen Freilaſſungen geſetzlich anerkannt hatte ſ. z. B.
Plin. Ep. VII, 16. Si voles vindicta liberare, quos proxime inter amicos
manumisisti.
936) Gegen die Meinung, daß ſie ſich auf ſtadt ſäſſige Pupillen be-
ſchränkt habe (Rudorff Recht der Vormundſchaft B. 1 §. 47) ſ. Th. Mommſen
die Stadtrechte der latin. Gemeinden Salpenſa und Malaca S. 438.
937) Dig. XXVII, 5 und 6.
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[692/0398] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. Dem Verkehr ward es weniger leicht, ſich von dem läſtigen Requiſit der Anweſenheit in Rom zu befreien. Vollſtändig ge- lang es ihm nur rückſichtlich der Teſtamentsform; das von ihm erfundene Mancipationsteſtament, welches neben andern Vor- zügen auch den der Ortsentbindung von Rom enthielt, trat ganz an die Stelle der ältern Form. Rückſichtlich der übrigen Ge- ſchäfte vermochte er ſich, ſo lange der Prätor ſich nicht ins Mit- tel legte, nur in unvollkommner Weiſe zu helfen, nämlich durch factiſche Vornahme der Geſchäfte außerhalb Roms und den Schutz, den die Sitte ihnen gewährte (S. 514). Das Haupt- beiſpiel bieten die Freilaſſungen. Man erklärte den Sklaven vor Zeugen für frei (manumissio inter amicos) und behandelte ihn fortan als ſolchen, bis ſich Zeit und Gelegenheit fand, in Rom vor dem Cenſor oder Prätor den Act in aller Form Rechtens zu wiederholen. 935) Ein anderes Beiſpiel liefert die obrigkeitliche Beſtellung eines Vormundes nach der lex Atilia (tutor Atilia- nus). Sie mußte in Rom geſchehen. 936) Bis man zur Reiſe nach Rom Zeit fand, verwaltete, wie es bis zum Erſcheinen des Geſetzes immer der Fall geweſen, irgend eine dem Pupillen nahe ſtehende Perſon factiſch das Amt des Tutors. Auch hier gab ſpäter der Prätor dem Factiſchen rechtliche Geſtalt, näm- lich mittelſt der Beſtimmungen des Edicts über factiſche Tuto- ren (Protutoren). 937) Für den Civilproceß gab es, um ſich der Reiſe nach Rom zu entziehen, keinen andern Ausweg, als Vereinigung beider Partheien über ſchiedsrichterliche Entſcheidung. Es gehörte zum Begriff des „lege agere“ und des judicium legitimum, daß der 935) Das geſchah auch noch in ſpäterer Zeit, nachdem die lex Junia Norbana die unvollkommen Freilaſſungen geſetzlich anerkannt hatte ſ. z. B. Plin. Ep. VII, 16. Si voles vindicta liberare, quos proxime inter amicos manumisisti. 936) Gegen die Meinung, daß ſie ſich auf ſtadt ſäſſige Pupillen be- ſchränkt habe (Rudorff Recht der Vormundſchaft B. 1 §. 47) ſ. Th. Mommſen die Stadtrechte der latin. Gemeinden Salpenſa und Malaca S. 438. 937) Dig. XXVII, 5 und 6.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 692. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/398>, abgerufen am 24.11.2024.