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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
(S. 60), aber die Klage, den Anspruch auf Schutz von Sei-
ten des Staats betrachtet er als eine Gabe des letzteren. Die
Jurisprudenz kann ihm dieselbe nicht gewähren. Wenn nicht
das Volk selbst die Sache in die Hand nimmt, kann und mag
die Jurisprudenz, als Vertreterin desselben, den Prätor zur Ein-
führung der Klage drängen, aber ihn nicht ersetzen. Der
römischen Jurisprudenz war der Prätor unentbehrlich, unsere
heutige ersetzt ihn bis zu einem gewissen Grade durch sich selbst.
Denn das, wozu jene ihn nöthig hatte, erreicht sie schon durch
sich selbst, und der Grund, daß sie es kann, liegt eben in ihrer Auf-
fassung der Klage. Hat sie nur erst das Recht gewonnen, ist sie
also im Stande, auf dem Wege der Deduction die innere Nothwen-
digkeit des letzteren zu erweisen, so versteht sich für sie die Klage
von selbst -- die Klage ist ihr eine bloße Consequenz des Rechts,
kein eignes Geschöpf. Der Rechtsschutz des Staats ist in ihren
Augen die allgemeine Atmosphäre, in der die Rechte leben, eine
res communis wie die Luft, die allem, was auf dem Boden des
Rechts zur Existenz gelangt, z. B. auf gewohnheitsrechtlichem
Wege, von selbst zu Gute kommt. Die Klage ist ihr kein In-
dividuum
, sondern eine Abstraction. Den Römern ist
umgekehrt die Klage ein Individuum. Sie hat ihr bestimmtes
Gebiet, ihren bestimmten Begriff, ihren eigenen Namen und ihre
eigne Formel, ihre Entstehung beruht auf einer bestimmten histo-
rischen Thatsache, einem eignen Zeugungsact, und es ist bezeich-
nend, daß sie die Erinnerung an den Prätor, der sie eingeführt
hat, häufig in ihrem Namen festhält. 908)

Aus dem bloßen Stoff und Material allein, durch bloße

908) Die Klagen, deren Ursprung sich in die Vorzeit verliert, tragen
ihren Namen nach der Sache z. B. rei vindicatio, actio confessoria, he-
reditatis petitio,
die der spätern Zeit vorzugsweise nach ihrem Ursprung
z. B. actio legis Aquiliae, Publiciana, Pauliana, Serviana, interdictum
Salvianum
. Es ist gewiß nicht zufällig, daß manche Klagen des prätorischen
Edicts nach der Person des Prätors genannt sind, andere nicht -- eine Be-
merkung, die ich hier jedoch nicht weiter verfolgen darf.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 43

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
(S. 60), aber die Klage, den Anſpruch auf Schutz von Sei-
ten des Staats betrachtet er als eine Gabe des letzteren. Die
Jurisprudenz kann ihm dieſelbe nicht gewähren. Wenn nicht
das Volk ſelbſt die Sache in die Hand nimmt, kann und mag
die Jurisprudenz, als Vertreterin deſſelben, den Prätor zur Ein-
führung der Klage drängen, aber ihn nicht erſetzen. Der
römiſchen Jurisprudenz war der Prätor unentbehrlich, unſere
heutige erſetzt ihn bis zu einem gewiſſen Grade durch ſich ſelbſt.
Denn das, wozu jene ihn nöthig hatte, erreicht ſie ſchon durch
ſich ſelbſt, und der Grund, daß ſie es kann, liegt eben in ihrer Auf-
faſſung der Klage. Hat ſie nur erſt das Recht gewonnen, iſt ſie
alſo im Stande, auf dem Wege der Deduction die innere Nothwen-
digkeit des letzteren zu erweiſen, ſo verſteht ſich für ſie die Klage
von ſelbſt — die Klage iſt ihr eine bloße Conſequenz des Rechts,
kein eignes Geſchöpf. Der Rechtsſchutz des Staats iſt in ihren
Augen die allgemeine Atmoſphäre, in der die Rechte leben, eine
res communis wie die Luft, die allem, was auf dem Boden des
Rechts zur Exiſtenz gelangt, z. B. auf gewohnheitsrechtlichem
Wege, von ſelbſt zu Gute kommt. Die Klage iſt ihr kein In-
dividuum
, ſondern eine Abſtraction. Den Römern iſt
umgekehrt die Klage ein Individuum. Sie hat ihr beſtimmtes
Gebiet, ihren beſtimmten Begriff, ihren eigenen Namen und ihre
eigne Formel, ihre Entſtehung beruht auf einer beſtimmten hiſto-
riſchen Thatſache, einem eignen Zeugungsact, und es iſt bezeich-
nend, daß ſie die Erinnerung an den Prätor, der ſie eingeführt
hat, häufig in ihrem Namen feſthält. 908)

Aus dem bloßen Stoff und Material allein, durch bloße

908) Die Klagen, deren Urſprung ſich in die Vorzeit verliert, tragen
ihren Namen nach der Sache z. B. rei vindicatio, actio confessoria, he-
reditatis petitio,
die der ſpätern Zeit vorzugsweiſe nach ihrem Urſprung
z. B. actio legis Aquiliae, Publiciana, Pauliana, Serviana, interdictum
Salvianum
. Es iſt gewiß nicht zufällig, daß manche Klagen des prätoriſchen
Edicts nach der Perſon des Prätors genannt ſind, andere nicht — eine Be-
merkung, die ich hier jedoch nicht weiter verfolgen darf.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 43
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[673/0379] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. (S. 60), aber die Klage, den Anſpruch auf Schutz von Sei- ten des Staats betrachtet er als eine Gabe des letzteren. Die Jurisprudenz kann ihm dieſelbe nicht gewähren. Wenn nicht das Volk ſelbſt die Sache in die Hand nimmt, kann und mag die Jurisprudenz, als Vertreterin deſſelben, den Prätor zur Ein- führung der Klage drängen, aber ihn nicht erſetzen. Der römiſchen Jurisprudenz war der Prätor unentbehrlich, unſere heutige erſetzt ihn bis zu einem gewiſſen Grade durch ſich ſelbſt. Denn das, wozu jene ihn nöthig hatte, erreicht ſie ſchon durch ſich ſelbſt, und der Grund, daß ſie es kann, liegt eben in ihrer Auf- faſſung der Klage. Hat ſie nur erſt das Recht gewonnen, iſt ſie alſo im Stande, auf dem Wege der Deduction die innere Nothwen- digkeit des letzteren zu erweiſen, ſo verſteht ſich für ſie die Klage von ſelbſt — die Klage iſt ihr eine bloße Conſequenz des Rechts, kein eignes Geſchöpf. Der Rechtsſchutz des Staats iſt in ihren Augen die allgemeine Atmoſphäre, in der die Rechte leben, eine res communis wie die Luft, die allem, was auf dem Boden des Rechts zur Exiſtenz gelangt, z. B. auf gewohnheitsrechtlichem Wege, von ſelbſt zu Gute kommt. Die Klage iſt ihr kein In- dividuum, ſondern eine Abſtraction. Den Römern iſt umgekehrt die Klage ein Individuum. Sie hat ihr beſtimmtes Gebiet, ihren beſtimmten Begriff, ihren eigenen Namen und ihre eigne Formel, ihre Entſtehung beruht auf einer beſtimmten hiſto- riſchen Thatſache, einem eignen Zeugungsact, und es iſt bezeich- nend, daß ſie die Erinnerung an den Prätor, der ſie eingeführt hat, häufig in ihrem Namen feſthält. 908) Aus dem bloßen Stoff und Material allein, durch bloße 908) Die Klagen, deren Urſprung ſich in die Vorzeit verliert, tragen ihren Namen nach der Sache z. B. rei vindicatio, actio confessoria, he- reditatis petitio, die der ſpätern Zeit vorzugsweiſe nach ihrem Urſprung z. B. actio legis Aquiliae, Publiciana, Pauliana, Serviana, interdictum Salvianum. Es iſt gewiß nicht zufällig, daß manche Klagen des prätoriſchen Edicts nach der Perſon des Prätors genannt ſind, andere nicht — eine Be- merkung, die ich hier jedoch nicht weiter verfolgen darf. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 43

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 673. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/379>, abgerufen am 23.07.2024.