Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Wie die großen Meister der Tonkunst es verstanden haben, die verschiedenen Personen einer Oper in dem Maße musika- lisch zu individualisiren, daß jede derselben ihre eigne musika- lische Sprache hat, so unsere alten juristischen Meister die Per- sonen, die sie sprechen zu lassen haben. Jede derselben: das Volk, der Senat, der Prätor redet seine eigne seiner politischen Rolle entsprechende Sprache, und ich hoffe den Leser zu über- zeugen, daß es nicht zu viel gesagt ist, wenn ich behaupte, daß z. B. die eigenthümliche staatsrechtliche Stellung des Prätors kaum treffender charakterisirt werden kann, als es der Curial- styl des Edicts durch einige wenige Wendungen gethan hat.
Diese ganze Richtung schloß übrigens die Gefahr eines be- denklichen Abweges in sich, und es ist gewiß nicht das kleinste Verdienst der alten Jurisprudenz, daß sie denselben glücklich vermieden hat, es war der ihrer Ausartung in eitel Spielerei. Wie nahe derselbe gelegen, zeigt uns das Beispiel eines Rechts, das wie in so vielen andern Punkten, so auch in dieser Bezie- hung eine höchst lehrreiche Parallele für das alte römische Recht darbietet. Es ist das isländische. Wenn irgendwo außer dem römischen so hat in ihm der Formelcultus und das Sichver- tiefen in das Wort die höchste Höhe erreicht. Es bedurfte, nach der Versicherung eines competenten Berichterstatters, 816) eines mehrjährigen Studiums, um alle die Formeln auswendig zu lernen, und "bei Anwendung derselben kam der Verstand in vollste Thätigkeit." Aber hier unterlag er der eben bezeichneten Gefahr. "Das Recht war ganz zu einem Spiel des Witzes ge- worden und zu einer Wette, wer die dunkelsten und seltensten der vielen Formeln und Gebräuche am untadeligsten vortragen und anwenden könne -- und sehr häufig mußte Blut heilen, was die Sophisterei verrenkt hatte." Daß die Römer dieser Gefahr nicht verfallen sind, die einem durch die Natur während des ganzen Winters zum Grübeln verurtheilten Volk so ver-
816) Weinhold altnordisches Leben, Berlin 1856. S. 402.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 40
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Wie die großen Meiſter der Tonkunſt es verſtanden haben, die verſchiedenen Perſonen einer Oper in dem Maße muſika- liſch zu individualiſiren, daß jede derſelben ihre eigne muſika- liſche Sprache hat, ſo unſere alten juriſtiſchen Meiſter die Per- ſonen, die ſie ſprechen zu laſſen haben. Jede derſelben: das Volk, der Senat, der Prätor redet ſeine eigne ſeiner politiſchen Rolle entſprechende Sprache, und ich hoffe den Leſer zu über- zeugen, daß es nicht zu viel geſagt iſt, wenn ich behaupte, daß z. B. die eigenthümliche ſtaatsrechtliche Stellung des Prätors kaum treffender charakteriſirt werden kann, als es der Curial- ſtyl des Edicts durch einige wenige Wendungen gethan hat.
Dieſe ganze Richtung ſchloß übrigens die Gefahr eines be- denklichen Abweges in ſich, und es iſt gewiß nicht das kleinſte Verdienſt der alten Jurisprudenz, daß ſie denſelben glücklich vermieden hat, es war der ihrer Ausartung in eitel Spielerei. Wie nahe derſelbe gelegen, zeigt uns das Beiſpiel eines Rechts, das wie in ſo vielen andern Punkten, ſo auch in dieſer Bezie- hung eine höchſt lehrreiche Parallele für das alte römiſche Recht darbietet. Es iſt das isländiſche. Wenn irgendwo außer dem römiſchen ſo hat in ihm der Formelcultus und das Sichver- tiefen in das Wort die höchſte Höhe erreicht. Es bedurfte, nach der Verſicherung eines competenten Berichterſtatters, 816) eines mehrjährigen Studiums, um alle die Formeln auswendig zu lernen, und „bei Anwendung derſelben kam der Verſtand in vollſte Thätigkeit.“ Aber hier unterlag er der eben bezeichneten Gefahr. „Das Recht war ganz zu einem Spiel des Witzes ge- worden und zu einer Wette, wer die dunkelſten und ſeltenſten der vielen Formeln und Gebräuche am untadeligſten vortragen und anwenden könne — und ſehr häufig mußte Blut heilen, was die Sophiſterei verrenkt hatte.“ Daß die Römer dieſer Gefahr nicht verfallen ſind, die einem durch die Natur während des ganzen Winters zum Grübeln verurtheilten Volk ſo ver-
816) Weinhold altnordiſches Leben, Berlin 1856. S. 402.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 40
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
Wie die großen Meiſter der Tonkunſt es verſtanden haben,
die verſchiedenen Perſonen einer Oper in dem Maße muſika-
liſch zu individualiſiren, daß jede derſelben ihre eigne muſika-
liſche Sprache hat, ſo unſere alten juriſtiſchen Meiſter die Per-
ſonen, die ſie ſprechen zu laſſen haben. Jede derſelben: das
Volk, der Senat, der Prätor redet ſeine eigne ſeiner politiſchen
Rolle entſprechende Sprache, und ich hoffe den Leſer zu über-
zeugen, daß es nicht zu viel geſagt iſt, wenn ich behaupte, daß
z. B. die eigenthümliche ſtaatsrechtliche Stellung des Prätors
kaum treffender charakteriſirt werden kann, als es der Curial-
ſtyl des Edicts durch einige wenige Wendungen gethan hat.
Dieſe ganze Richtung ſchloß übrigens die Gefahr eines be-
denklichen Abweges in ſich, und es iſt gewiß nicht das kleinſte
Verdienſt der alten Jurisprudenz, daß ſie denſelben glücklich
vermieden hat, es war der ihrer Ausartung in eitel Spielerei.
Wie nahe derſelbe gelegen, zeigt uns das Beiſpiel eines Rechts,
das wie in ſo vielen andern Punkten, ſo auch in dieſer Bezie-
hung eine höchſt lehrreiche Parallele für das alte römiſche Recht
darbietet. Es iſt das isländiſche. Wenn irgendwo außer dem
römiſchen ſo hat in ihm der Formelcultus und das Sichver-
tiefen in das Wort die höchſte Höhe erreicht. Es bedurfte, nach
der Verſicherung eines competenten Berichterſtatters, 816) eines
mehrjährigen Studiums, um alle die Formeln auswendig zu
lernen, und „bei Anwendung derſelben kam der Verſtand in
vollſte Thätigkeit.“ Aber hier unterlag er der eben bezeichneten
Gefahr. „Das Recht war ganz zu einem Spiel des Witzes ge-
worden und zu einer Wette, wer die dunkelſten und ſeltenſten
der vielen Formeln und Gebräuche am untadeligſten vortragen
und anwenden könne — und ſehr häufig mußte Blut heilen,
was die Sophiſterei verrenkt hatte.“ Daß die Römer dieſer
Gefahr nicht verfallen ſind, die einem durch die Natur während
des ganzen Winters zum Grübeln verurtheilten Volk ſo ver-
816) Weinhold altnordiſches Leben, Berlin 1856. S. 402.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 40
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 625. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/331>, abgerufen am 16.02.2025.
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