Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
klassischen Juristen, und die theilen uns regelmäßig nur das zu
ihrer Zeit Geltende mit. Die Annahme, daß dies stets auch
das Ursprüngliche gewesen, ist aber aus dem Grunde höchst
mißlich, weil die Bande des Formalismus sich nachweisbarer-
maßen zu ihrer Zeit schon vielfach gelockert hatten. Der Geist
der alten Jurisprudenz, jene Peinlichkeit und Strenge in den
Worten, der Sinn und das Verständniß für das Formeln-
wesen war bereits im Scheiden. Ein alter Jurist hätte sich
nie auch nur die geringste Abweichung in der Mittheilung einer
Formel erlaubt; an Beispielen aus der damaligen Zeit fehlt es
keineswegs. 790) Neben der alten Formel wurden zur Auswahl
andere neuere zugelassen -- ebenfalls ein entschiedener Abfall
vom Geist der älteren Zeit, denn die duldete, so weit ich habe
bemerken können, für jedes Geschäft nur eine Formel. Für
einzelne Fälle verstatten unsere Quellen, die Differenz zwischen
dem Früheren und Spätern, ja sogar zwischen der nur durch
ein halbes Jahrhundert getrennten Zeit des Gajus und Ulpian
streng nachzuweisen. So erklärt jener eine Ungenauigkeit in
der Fassung der Stipulation für schädlich, die dieser als einfluß-
los bezeichnet. 791) So kennt Ulpian drei Formeln der Erbes-
einsetzung, die uralte: heres esto, und zwei andere, von denen
Gajus nur eine für zulässig erachtet und zwar in einer Weise,
aus der man ersieht, daß man sich erst um seine Zeit darüber
geeinigt hatte. 792) Ein ähnliches Verhältniß waltet zwischen
den von ihnen angegebenen Formeln der Vermächtnisse ob. 793)

790) Man vergleiche z. B. die Mancipationsformel bei Gaj. I, 169:
isque mihi emptus est hoc aere aeneaque libra
mit der bei Paulus Vat.
fr. §. 50 emtus mihi est pretio
und die Verwechslung der Conjunction cum
und quod bei Ulp. XXII, 28 und Gaj. II, 166.
791) Vergleiche Gaj. III, 102 mit L. 1 §. 4 de V. O. (45. 1).
792) Ulp. XXI. Gaj. II, 117 .. sed et illa (heredem esse jubeo)
jam comprobata videtur.
793) Gaj. II, 201. Ulp. XXIV, 4. Die Formel: dare jubeo kennt
Gajus noch nicht, und es ist daher nicht zu rechtfertigen, wenn die Heraus-
geber bei II, 267, wo die Handschrift eine absolute Lücke hat, neben der For-
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 39

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
klaſſiſchen Juriſten, und die theilen uns regelmäßig nur das zu
ihrer Zeit Geltende mit. Die Annahme, daß dies ſtets auch
das Urſprüngliche geweſen, iſt aber aus dem Grunde höchſt
mißlich, weil die Bande des Formalismus ſich nachweisbarer-
maßen zu ihrer Zeit ſchon vielfach gelockert hatten. Der Geiſt
der alten Jurisprudenz, jene Peinlichkeit und Strenge in den
Worten, der Sinn und das Verſtändniß für das Formeln-
weſen war bereits im Scheiden. Ein alter Juriſt hätte ſich
nie auch nur die geringſte Abweichung in der Mittheilung einer
Formel erlaubt; an Beiſpielen aus der damaligen Zeit fehlt es
keineswegs. 790) Neben der alten Formel wurden zur Auswahl
andere neuere zugelaſſen — ebenfalls ein entſchiedener Abfall
vom Geiſt der älteren Zeit, denn die duldete, ſo weit ich habe
bemerken können, für jedes Geſchäft nur eine Formel. Für
einzelne Fälle verſtatten unſere Quellen, die Differenz zwiſchen
dem Früheren und Spätern, ja ſogar zwiſchen der nur durch
ein halbes Jahrhundert getrennten Zeit des Gajus und Ulpian
ſtreng nachzuweiſen. So erklärt jener eine Ungenauigkeit in
der Faſſung der Stipulation für ſchädlich, die dieſer als einfluß-
los bezeichnet. 791) So kennt Ulpian drei Formeln der Erbes-
einſetzung, die uralte: heres esto, und zwei andere, von denen
Gajus nur eine für zuläſſig erachtet und zwar in einer Weiſe,
aus der man erſieht, daß man ſich erſt um ſeine Zeit darüber
geeinigt hatte. 792) Ein ähnliches Verhältniß waltet zwiſchen
den von ihnen angegebenen Formeln der Vermächtniſſe ob. 793)

790) Man vergleiche z. B. die Mancipationsformel bei Gaj. I, 169:
isque mihi emptus est hoc aere aeneaque libra
mit der bei Paulus Vat.
fr. §. 50 emtus mihi est pretio
und die Verwechſlung der Conjunction cum
und quod bei Ulp. XXII, 28 und Gaj. II, 166.
791) Vergleiche Gaj. III, 102 mit L. 1 §. 4 de V. O. (45. 1).
792) Ulp. XXI. Gaj. II, 117 .. sed et illa (heredem esse jubeo)
jam comprobata videtur.
793) Gaj. II, 201. Ulp. XXIV, 4. Die Formel: dare jubeo kennt
Gajus noch nicht, und es iſt daher nicht zu rechtfertigen, wenn die Heraus-
geber bei II, 267, wo die Handſchrift eine abſolute Lücke hat, neben der For-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 39
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0315" n="609"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 47.</fw><lb/>
kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Juri&#x017F;ten, und die theilen uns regelmäßig nur das zu<lb/><hi rendition="#g">ihrer</hi> Zeit Geltende mit. Die Annahme, daß dies &#x017F;tets auch<lb/>
das Ur&#x017F;prüngliche gewe&#x017F;en, i&#x017F;t aber aus dem Grunde höch&#x017F;t<lb/>
mißlich, weil die Bande des Formalismus &#x017F;ich nachweisbarer-<lb/>
maßen zu ihrer Zeit &#x017F;chon vielfach gelockert hatten. Der Gei&#x017F;t<lb/>
der alten Jurisprudenz, jene Peinlichkeit und Strenge in den<lb/>
Worten, der Sinn und das Ver&#x017F;tändniß für das Formeln-<lb/>
we&#x017F;en war bereits im Scheiden. Ein alter Juri&#x017F;t hätte &#x017F;ich<lb/>
nie auch nur die gering&#x017F;te Abweichung in der Mittheilung einer<lb/>
Formel erlaubt; an Bei&#x017F;pielen aus der damaligen Zeit fehlt es<lb/>
keineswegs. <note place="foot" n="790)">Man vergleiche z. B. die Mancipationsformel bei <hi rendition="#aq">Gaj. I, 169:<lb/>
isque mihi emptus est hoc aere aeneaque libra</hi> mit der bei Paulus <hi rendition="#aq">Vat.<lb/>
fr. §. 50 emtus mihi est pretio</hi> und die Verwech&#x017F;lung der Conjunction <hi rendition="#aq">cum</hi><lb/>
und <hi rendition="#aq">quod</hi> bei <hi rendition="#aq">Ulp. XXII,</hi> 28 und <hi rendition="#aq">Gaj. II, 166.</hi></note> Neben der alten Formel wurden zur Auswahl<lb/>
andere neuere zugela&#x017F;&#x017F;en &#x2014; ebenfalls ein ent&#x017F;chiedener Abfall<lb/>
vom Gei&#x017F;t der älteren Zeit, denn <hi rendition="#g">die</hi> duldete, &#x017F;o weit ich habe<lb/>
bemerken können, für jedes Ge&#x017F;chäft nur <hi rendition="#g">eine</hi> Formel. Für<lb/>
einzelne Fälle ver&#x017F;tatten un&#x017F;ere Quellen, die Differenz zwi&#x017F;chen<lb/>
dem Früheren und Spätern, ja &#x017F;ogar zwi&#x017F;chen der nur durch<lb/>
ein halbes Jahrhundert getrennten Zeit des Gajus und Ulpian<lb/>
&#x017F;treng nachzuwei&#x017F;en. So erklärt jener eine Ungenauigkeit in<lb/>
der Fa&#x017F;&#x017F;ung der Stipulation für &#x017F;chädlich, die die&#x017F;er als einfluß-<lb/>
los bezeichnet. <note place="foot" n="791)">Vergleiche <hi rendition="#aq">Gaj. III,</hi> 102 mit <hi rendition="#aq">L. 1 §. 4 de V. O. (45. 1).</hi></note> So kennt Ulpian drei Formeln der Erbes-<lb/>
ein&#x017F;etzung, die uralte: <hi rendition="#aq">heres esto,</hi> und zwei andere, von denen<lb/>
Gajus nur eine für zulä&#x017F;&#x017F;ig erachtet und zwar in einer Wei&#x017F;e,<lb/>
aus der man er&#x017F;ieht, daß man &#x017F;ich er&#x017F;t um &#x017F;eine Zeit darüber<lb/>
geeinigt hatte. <note place="foot" n="792)"><hi rendition="#aq">Ulp. XXI. Gaj. II, 117 .. sed et illa (heredem esse jubeo)<lb/>
jam comprobata videtur.</hi></note> Ein ähnliches Verhältniß waltet zwi&#x017F;chen<lb/>
den von ihnen angegebenen Formeln der Vermächtni&#x017F;&#x017F;e ob. <note xml:id="seg2pn_35_1" next="#seg2pn_35_2" place="foot" n="793)"><hi rendition="#aq">Gaj. II, 201. Ulp. XXIV, 4.</hi> Die Formel: <hi rendition="#aq">dare <hi rendition="#g">jubeo</hi></hi> kennt<lb/>
Gajus noch nicht, und es i&#x017F;t daher nicht zu rechtfertigen, wenn die Heraus-<lb/>
geber bei <hi rendition="#aq">II,</hi> 267, wo die Hand&#x017F;chrift eine ab&#x017F;olute Lücke hat, neben der For-</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Jhering, Gei&#x017F;t d. röm. Rechts. <hi rendition="#aq">II.</hi> 39</fw><lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[609/0315] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47. klaſſiſchen Juriſten, und die theilen uns regelmäßig nur das zu ihrer Zeit Geltende mit. Die Annahme, daß dies ſtets auch das Urſprüngliche geweſen, iſt aber aus dem Grunde höchſt mißlich, weil die Bande des Formalismus ſich nachweisbarer- maßen zu ihrer Zeit ſchon vielfach gelockert hatten. Der Geiſt der alten Jurisprudenz, jene Peinlichkeit und Strenge in den Worten, der Sinn und das Verſtändniß für das Formeln- weſen war bereits im Scheiden. Ein alter Juriſt hätte ſich nie auch nur die geringſte Abweichung in der Mittheilung einer Formel erlaubt; an Beiſpielen aus der damaligen Zeit fehlt es keineswegs. 790) Neben der alten Formel wurden zur Auswahl andere neuere zugelaſſen — ebenfalls ein entſchiedener Abfall vom Geiſt der älteren Zeit, denn die duldete, ſo weit ich habe bemerken können, für jedes Geſchäft nur eine Formel. Für einzelne Fälle verſtatten unſere Quellen, die Differenz zwiſchen dem Früheren und Spätern, ja ſogar zwiſchen der nur durch ein halbes Jahrhundert getrennten Zeit des Gajus und Ulpian ſtreng nachzuweiſen. So erklärt jener eine Ungenauigkeit in der Faſſung der Stipulation für ſchädlich, die dieſer als einfluß- los bezeichnet. 791) So kennt Ulpian drei Formeln der Erbes- einſetzung, die uralte: heres esto, und zwei andere, von denen Gajus nur eine für zuläſſig erachtet und zwar in einer Weiſe, aus der man erſieht, daß man ſich erſt um ſeine Zeit darüber geeinigt hatte. 792) Ein ähnliches Verhältniß waltet zwiſchen den von ihnen angegebenen Formeln der Vermächtniſſe ob. 793) 790) Man vergleiche z. B. die Mancipationsformel bei Gaj. I, 169: isque mihi emptus est hoc aere aeneaque libra mit der bei Paulus Vat. fr. §. 50 emtus mihi est pretio und die Verwechſlung der Conjunction cum und quod bei Ulp. XXII, 28 und Gaj. II, 166. 791) Vergleiche Gaj. III, 102 mit L. 1 §. 4 de V. O. (45. 1). 792) Ulp. XXI. Gaj. II, 117 .. sed et illa (heredem esse jubeo) jam comprobata videtur. 793) Gaj. II, 201. Ulp. XXIV, 4. Die Formel: dare jubeo kennt Gajus noch nicht, und es iſt daher nicht zu rechtfertigen, wenn die Heraus- geber bei II, 267, wo die Handſchrift eine abſolute Lücke hat, neben der For- Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 39

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/315
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/315>, abgerufen am 22.11.2024.