Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
demselben zu versöhnen, als zu entzweien, sie gibt uns ein Räthsel ohne die Auflösung.
Um nun gleich den Punkt anzugeben, in dem meiner Mei- nung nach diese Auflösung und allgemeiner: das Verständniß des ganzen Formenwesens zu suchen ist, so ist dies das mor- phologische Element desselben, aber nichtin seiner dürren Aeußerlichkeit, sondern in seiner innern Ursächlichkeit. Wir sollen dasselbe nicht hinnehmen als etwas Gegebenes, bei dem man sich beruhigen müsse, bei dem man sich keine Rechen- schaft geben könne, warum das Einzelne gerade so und nicht anders sei, und bei dem dies auch kein höheres Interesse habe. Der Gesichtspunkt vielmehr, unter dem wir es zu erfassen ha- ben, und den ich im Folgenden möglichst durchführen werde, ist der einer bewußten und berechneten juristischen Schöpfung, einer tiefdurchdachten Zeichensprache, kurz eines Kunstpro- ductes des juristischen Geistes. Von dem Scharfsinn, ja ich darf sagen, dem Geist, den die alten Juristen in den scheinbar so unfruchtbaren und dürren Gegenstand hineinzulegen verstan- den, haben wir, denen unser heutiges Recht und unsere heutige Wissenschaft jede Parallele versagt, heutzutage kaum eine Ah- nung. Die Aufgabe und damit auch die Methode unserer heu- tigen Wissenschaft ist eine andere geworden, und mit der Sache selbst ist uns der Sinn und das Verständniß für jenen un- tergegangenen Zweig der juristischen Kunst, die sich im alt- römischen Formenwesen bethätigte, abhanden gekommen. Mich gemahnt dieser Umschwung, dieses völlige Aussterben einer Kunst, die einst im höchsten Flor und Ansehn stand und den ganzen Scharfsinn der Juristen in Bewegung setzte, an so manche Erscheinungen des modernen Culturlebens. Ein recht verwickel- ter Kanon, ein Gedicht nach den Regeln des Meistergesanges brachten einst dem Musiker und Meistersänger nicht mindere Ehre und Anerkennung, als eine fein ersonnene Formel einem altrömischen Juristen. Heutzutage würde man kaum etwas anderes darin finden, als ein nutzloses Spiel des Verstandes.
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
demſelben zu verſöhnen, als zu entzweien, ſie gibt uns ein Räthſel ohne die Auflöſung.
Um nun gleich den Punkt anzugeben, in dem meiner Mei- nung nach dieſe Auflöſung und allgemeiner: das Verſtändniß des ganzen Formenweſens zu ſuchen iſt, ſo iſt dies das mor- phologiſche Element deſſelben, aber nichtin ſeiner dürren Aeußerlichkeit, ſondern in ſeiner innern Urſächlichkeit. Wir ſollen daſſelbe nicht hinnehmen als etwas Gegebenes, bei dem man ſich beruhigen müſſe, bei dem man ſich keine Rechen- ſchaft geben könne, warum das Einzelne gerade ſo und nicht anders ſei, und bei dem dies auch kein höheres Intereſſe habe. Der Geſichtspunkt vielmehr, unter dem wir es zu erfaſſen ha- ben, und den ich im Folgenden möglichſt durchführen werde, iſt der einer bewußten und berechneten juriſtiſchen Schöpfung, einer tiefdurchdachten Zeichenſprache, kurz eines Kunſtpro- ductes des juriſtiſchen Geiſtes. Von dem Scharfſinn, ja ich darf ſagen, dem Geiſt, den die alten Juriſten in den ſcheinbar ſo unfruchtbaren und dürren Gegenſtand hineinzulegen verſtan- den, haben wir, denen unſer heutiges Recht und unſere heutige Wiſſenſchaft jede Parallele verſagt, heutzutage kaum eine Ah- nung. Die Aufgabe und damit auch die Methode unſerer heu- tigen Wiſſenſchaft iſt eine andere geworden, und mit der Sache ſelbſt iſt uns der Sinn und das Verſtändniß für jenen un- tergegangenen Zweig der juriſtiſchen Kunſt, die ſich im alt- römiſchen Formenweſen bethätigte, abhanden gekommen. Mich gemahnt dieſer Umſchwung, dieſes völlige Ausſterben einer Kunſt, die einſt im höchſten Flor und Anſehn ſtand und den ganzen Scharfſinn der Juriſten in Bewegung ſetzte, an ſo manche Erſcheinungen des modernen Culturlebens. Ein recht verwickel- ter Kanon, ein Gedicht nach den Regeln des Meiſtergeſanges brachten einſt dem Muſiker und Meiſterſänger nicht mindere Ehre und Anerkennung, als eine fein erſonnene Formel einem altrömiſchen Juriſten. Heutzutage würde man kaum etwas anderes darin finden, als ein nutzloſes Spiel des Verſtandes.
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Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 47.
demſelben zu verſöhnen, als zu entzweien, ſie gibt uns ein
Räthſel ohne die Auflöſung.
Um nun gleich den Punkt anzugeben, in dem meiner Mei-
nung nach dieſe Auflöſung und allgemeiner: das Verſtändniß
des ganzen Formenweſens zu ſuchen iſt, ſo iſt dies das mor-
phologiſche Element deſſelben, aber nichtin ſeiner dürren
Aeußerlichkeit, ſondern in ſeiner innern Urſächlichkeit.
Wir ſollen daſſelbe nicht hinnehmen als etwas Gegebenes, bei
dem man ſich beruhigen müſſe, bei dem man ſich keine Rechen-
ſchaft geben könne, warum das Einzelne gerade ſo und nicht
anders ſei, und bei dem dies auch kein höheres Intereſſe habe.
Der Geſichtspunkt vielmehr, unter dem wir es zu erfaſſen ha-
ben, und den ich im Folgenden möglichſt durchführen werde, iſt
der einer bewußten und berechneten juriſtiſchen Schöpfung,
einer tiefdurchdachten Zeichenſprache, kurz eines Kunſtpro-
ductes des juriſtiſchen Geiſtes. Von dem Scharfſinn, ja ich
darf ſagen, dem Geiſt, den die alten Juriſten in den ſcheinbar
ſo unfruchtbaren und dürren Gegenſtand hineinzulegen verſtan-
den, haben wir, denen unſer heutiges Recht und unſere heutige
Wiſſenſchaft jede Parallele verſagt, heutzutage kaum eine Ah-
nung. Die Aufgabe und damit auch die Methode unſerer heu-
tigen Wiſſenſchaft iſt eine andere geworden, und mit der Sache
ſelbſt iſt uns der Sinn und das Verſtändniß für jenen un-
tergegangenen Zweig der juriſtiſchen Kunſt, die ſich im alt-
römiſchen Formenweſen bethätigte, abhanden gekommen. Mich
gemahnt dieſer Umſchwung, dieſes völlige Ausſterben einer
Kunſt, die einſt im höchſten Flor und Anſehn ſtand und den
ganzen Scharfſinn der Juriſten in Bewegung ſetzte, an ſo manche
Erſcheinungen des modernen Culturlebens. Ein recht verwickel-
ter Kanon, ein Gedicht nach den Regeln des Meiſtergeſanges
brachten einſt dem Muſiker und Meiſterſänger nicht mindere
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/295>, abgerufen am 16.07.2024.
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