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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
ableiten konnten -- ein solches Geschäft war keine mancipatio
mehr, sondern in der That etwas völlig Anderes geworden.

Aber eben dieses Beispiel ist recht geeignet, uns die Eigen-
thümlichkeit der Lage, in der sich die Jurisprudenz bei der Ge-
staltung des Scheingeschäfts befand, zu veranschaulichen. Der
obigen Rücksicht stand auf der andern Seite eine ungleich dring-
lichere, die auf den praktischen Zweck des Rechtsgeschäfts gegen-
über. Man konnte letzteren nicht der bloßen Form zum Opfer
bringen, sich nicht Consequenzen derselben gefallen lassen, die
mit dem beabsichtigten Zweck des Geschäfts selbst im Wider-
spruch standen. So galt es hier denn möglichst zwischen Form
und Inhalt zu vermitteln und, soweit dies ohne wesentliche Ge-
fährdung wichtigerer Interessen möglich war, der Form, dar-
über hinaus aber der Sache den Vorzug zu geben.

Dieses eigenthümliche Transactionssystem zwischen
dem formal technischen und dem praktischen Interesse ist für
das wahre Verständniß der Scheingeschäfte des ältern Rechts
unentbehrlich, wie dies die folgenden Beispiele zeigen werden.

Personen in der Gewalt können ihrem Herrn durch Rechts-
geschäft keine Personal- und Urbanalservituten, wohl aber Ru-
sticalservituten erwerben. 692) Ein seltsamer Satz! Besäßen
wir nicht die Lösung des Räthsels, wie vergebens würden wir
uns an demselben abmühen; denn vom Standpunkt des mate-
riellen Rechts aus ist der Satz schlechterdings nicht begreiflich.
Die Lösung liegt in Folgendem. Rusticalservituten waren res
mancipi,
Urbanalservituten res nec mancipi, jene konnten durch
mancipatio, diese nur durch in jure cessio erworben werden, jenen
Act konnten auch Personen in der Gewalt vornehmen, 693)

692) L. 12 de Serv. (8. 1) Vat. fr. §. 51.
693) Gaj. II §. 87. 167. Vat. fr. §. 51. -- Mußten sie die dabei zu
sprechenden Worte auf den Herrn stellen? Daß es möglich und zwar mit
individueller Bezeichnung desselben ("nomen adjectum"), zeigt der citirte
§. 167 von Gajus. Als Gegensatz zu dieser individuellen Bezeichnung
können wir uns ebensowohl die Stellung der Formel auf den Herrn mit ab-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ableiten konnten — ein ſolches Geſchäft war keine mancipatio
mehr, ſondern in der That etwas völlig Anderes geworden.

Aber eben dieſes Beiſpiel iſt recht geeignet, uns die Eigen-
thümlichkeit der Lage, in der ſich die Jurisprudenz bei der Ge-
ſtaltung des Scheingeſchäfts befand, zu veranſchaulichen. Der
obigen Rückſicht ſtand auf der andern Seite eine ungleich dring-
lichere, die auf den praktiſchen Zweck des Rechtsgeſchäfts gegen-
über. Man konnte letzteren nicht der bloßen Form zum Opfer
bringen, ſich nicht Conſequenzen derſelben gefallen laſſen, die
mit dem beabſichtigten Zweck des Geſchäfts ſelbſt im Wider-
ſpruch ſtanden. So galt es hier denn möglichſt zwiſchen Form
und Inhalt zu vermitteln und, ſoweit dies ohne weſentliche Ge-
fährdung wichtigerer Intereſſen möglich war, der Form, dar-
über hinaus aber der Sache den Vorzug zu geben.

Dieſes eigenthümliche Transactionsſyſtem zwiſchen
dem formal techniſchen und dem praktiſchen Intereſſe iſt für
das wahre Verſtändniß der Scheingeſchäfte des ältern Rechts
unentbehrlich, wie dies die folgenden Beiſpiele zeigen werden.

Perſonen in der Gewalt können ihrem Herrn durch Rechts-
geſchäft keine Perſonal- und Urbanalſervituten, wohl aber Ru-
ſticalſervituten erwerben. 692) Ein ſeltſamer Satz! Beſäßen
wir nicht die Löſung des Räthſels, wie vergebens würden wir
uns an demſelben abmühen; denn vom Standpunkt des mate-
riellen Rechts aus iſt der Satz ſchlechterdings nicht begreiflich.
Die Löſung liegt in Folgendem. Ruſticalſervituten waren res
mancipi,
Urbanalſervituten res nec mancipi, jene konnten durch
mancipatio, dieſe nur durch in jure cessio erworben werden, jenen
Act konnten auch Perſonen in der Gewalt vornehmen, 693)

692) L. 12 de Serv. (8. 1) Vat. fr. §. 51.
693) Gaj. II §. 87. 167. Vat. fr. §. 51. — Mußten ſie die dabei zu
ſprechenden Worte auf den Herrn ſtellen? Daß es möglich und zwar mit
individueller Bezeichnung deſſelben („nomen adjectum“), zeigt der citirte
§. 167 von Gajus. Als Gegenſatz zu dieſer individuellen Bezeichnung
können wir uns ebenſowohl die Stellung der Formel auf den Herrn mit ab-
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[560/0266] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. ableiten konnten — ein ſolches Geſchäft war keine mancipatio mehr, ſondern in der That etwas völlig Anderes geworden. Aber eben dieſes Beiſpiel iſt recht geeignet, uns die Eigen- thümlichkeit der Lage, in der ſich die Jurisprudenz bei der Ge- ſtaltung des Scheingeſchäfts befand, zu veranſchaulichen. Der obigen Rückſicht ſtand auf der andern Seite eine ungleich dring- lichere, die auf den praktiſchen Zweck des Rechtsgeſchäfts gegen- über. Man konnte letzteren nicht der bloßen Form zum Opfer bringen, ſich nicht Conſequenzen derſelben gefallen laſſen, die mit dem beabſichtigten Zweck des Geſchäfts ſelbſt im Wider- ſpruch ſtanden. So galt es hier denn möglichſt zwiſchen Form und Inhalt zu vermitteln und, ſoweit dies ohne weſentliche Ge- fährdung wichtigerer Intereſſen möglich war, der Form, dar- über hinaus aber der Sache den Vorzug zu geben. Dieſes eigenthümliche Transactionsſyſtem zwiſchen dem formal techniſchen und dem praktiſchen Intereſſe iſt für das wahre Verſtändniß der Scheingeſchäfte des ältern Rechts unentbehrlich, wie dies die folgenden Beiſpiele zeigen werden. Perſonen in der Gewalt können ihrem Herrn durch Rechts- geſchäft keine Perſonal- und Urbanalſervituten, wohl aber Ru- ſticalſervituten erwerben. 692) Ein ſeltſamer Satz! Beſäßen wir nicht die Löſung des Räthſels, wie vergebens würden wir uns an demſelben abmühen; denn vom Standpunkt des mate- riellen Rechts aus iſt der Satz ſchlechterdings nicht begreiflich. Die Löſung liegt in Folgendem. Ruſticalſervituten waren res mancipi, Urbanalſervituten res nec mancipi, jene konnten durch mancipatio, dieſe nur durch in jure cessio erworben werden, jenen Act konnten auch Perſonen in der Gewalt vornehmen, 693) 692) L. 12 de Serv. (8. 1) Vat. fr. §. 51. 693) Gaj. II §. 87. 167. Vat. fr. §. 51. — Mußten ſie die dabei zu ſprechenden Worte auf den Herrn ſtellen? Daß es möglich und zwar mit individueller Bezeichnung deſſelben („nomen adjectum“), zeigt der citirte §. 167 von Gajus. Als Gegenſatz zu dieſer individuellen Bezeichnung können wir uns ebenſowohl die Stellung der Formel auf den Herrn mit ab-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/266>, abgerufen am 24.11.2024.