Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zeit wurden in England die Oberrichterstellen nur mit Lords besetzt, dies änderte sich später, allein der Name und die An- rede: Lord Oberrichter ist bis auf den heutigen Tag geblieben.
Diese Anhänglichkeit an die gewohnte aber aller innern Bedeutung beraubte Form, dieser Cultus der nackten Aeußer- lichkeit erscheint auf den ersten Blick als etwas völlig Werth- loses und Verwerfliches, und die seichte Weisheit der Aufklä- rungsperiode hat ihn von den Tagen des Cicero an (S. 468 Anm. 610) bis auf unsere Zeit hinab als vogelfreien Gegen- stand des Witzes betrachtet. Es wäre verdienstlicher gewesen, die Sache zu begreifen, als zu verspotten. Sie hat eine höchst ernste Seite, und ich nehme nicht Anstand, in ihr eine der be- deutungsvollsten culturhistorischen Erscheinungen zu erblicken.
Die Sicherheit und Festigkeit des Fortschrittes beruht be- kanntlich auf der historischen Continuität, auf dem innigen Zu- sammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit. Zu den Fäden und Anknüpfungspunkten nun, durch die sich diese Con- tinuität vermittelt, gehört namentlich die Form, denn während die innern, sachlichen, historischen Anknüpfungspunkte dem Be- wußtsein der Menge mehr oder weniger entschwinden und nur einer kleinen Zahl von Kundigen eigentlich geläufig bleiben, so ist die Form als etwas Sichtbares und stets sich Wiederholen- des die hauptsächlichste Trägerin des historischen Continuitätsbewußtseins des Volks. Je mehr sich in den Formen irgend eine späterhin verschwundene Eigenthüm- lichkeit ihrer Entstehungszeit ausgeprägt hat, sei es der Verfas- sung, sei es der Sitte, Mode u. s. w., je fremdartiger sie also den Beschauer anmuthen und in ihm das Gefühl der historischen Ferne hervorrufen, wie etwa durch längst abgekommene Trach- ten und Moden die Bilder der Ahnen, um desto mehr ver- binden sie ihn andererseits mit der Vergangenheit, indem sie ihm dieselbe in anschaulicher und charakteristischer Weise vor- führen, die Erinnerung der alten Tage, das Gedächtniß der Ahnen im Volk wach und lebendig halten und damit jene maß-
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zeit wurden in England die Oberrichterſtellen nur mit Lords beſetzt, dies änderte ſich ſpäter, allein der Name und die An- rede: Lord Oberrichter iſt bis auf den heutigen Tag geblieben.
Dieſe Anhänglichkeit an die gewohnte aber aller innern Bedeutung beraubte Form, dieſer Cultus der nackten Aeußer- lichkeit erſcheint auf den erſten Blick als etwas völlig Werth- loſes und Verwerfliches, und die ſeichte Weisheit der Aufklä- rungsperiode hat ihn von den Tagen des Cicero an (S. 468 Anm. 610) bis auf unſere Zeit hinab als vogelfreien Gegen- ſtand des Witzes betrachtet. Es wäre verdienſtlicher geweſen, die Sache zu begreifen, als zu verſpotten. Sie hat eine höchſt ernſte Seite, und ich nehme nicht Anſtand, in ihr eine der be- deutungsvollſten culturhiſtoriſchen Erſcheinungen zu erblicken.
Die Sicherheit und Feſtigkeit des Fortſchrittes beruht be- kanntlich auf der hiſtoriſchen Continuität, auf dem innigen Zu- ſammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit. Zu den Fäden und Anknüpfungspunkten nun, durch die ſich dieſe Con- tinuität vermittelt, gehört namentlich die Form, denn während die innern, ſachlichen, hiſtoriſchen Anknüpfungspunkte dem Be- wußtſein der Menge mehr oder weniger entſchwinden und nur einer kleinen Zahl von Kundigen eigentlich geläufig bleiben, ſo iſt die Form als etwas Sichtbares und ſtets ſich Wiederholen- des die hauptſächlichſte Trägerin des hiſtoriſchen Continuitätsbewußtſeins des Volks. Je mehr ſich in den Formen irgend eine ſpäterhin verſchwundene Eigenthüm- lichkeit ihrer Entſtehungszeit ausgeprägt hat, ſei es der Verfaſ- ſung, ſei es der Sitte, Mode u. ſ. w., je fremdartiger ſie alſo den Beſchauer anmuthen und in ihm das Gefühl der hiſtoriſchen Ferne hervorrufen, wie etwa durch längſt abgekommene Trach- ten und Moden die Bilder der Ahnen, um deſto mehr ver- binden ſie ihn andererſeits mit der Vergangenheit, indem ſie ihm dieſelbe in anſchaulicher und charakteriſtiſcher Weiſe vor- führen, die Erinnerung der alten Tage, das Gedächtniß der Ahnen im Volk wach und lebendig halten und damit jene maß-
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Zeit wurden in England die Oberrichterſtellen nur mit Lords
beſetzt, dies änderte ſich ſpäter, allein der Name und die An-
rede: Lord Oberrichter iſt bis auf den heutigen Tag geblieben.
Dieſe Anhänglichkeit an die gewohnte aber aller innern
Bedeutung beraubte Form, dieſer Cultus der nackten Aeußer-
lichkeit erſcheint auf den erſten Blick als etwas völlig Werth-
loſes und Verwerfliches, und die ſeichte Weisheit der Aufklä-
rungsperiode hat ihn von den Tagen des Cicero an (S. 468
Anm. 610) bis auf unſere Zeit hinab als vogelfreien Gegen-
ſtand des Witzes betrachtet. Es wäre verdienſtlicher geweſen,
die Sache zu begreifen, als zu verſpotten. Sie hat eine höchſt
ernſte Seite, und ich nehme nicht Anſtand, in ihr eine der be-
deutungsvollſten culturhiſtoriſchen Erſcheinungen zu erblicken.
Die Sicherheit und Feſtigkeit des Fortſchrittes beruht be-
kanntlich auf der hiſtoriſchen Continuität, auf dem innigen Zu-
ſammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit. Zu den
Fäden und Anknüpfungspunkten nun, durch die ſich dieſe Con-
tinuität vermittelt, gehört namentlich die Form, denn während
die innern, ſachlichen, hiſtoriſchen Anknüpfungspunkte dem Be-
wußtſein der Menge mehr oder weniger entſchwinden und nur
einer kleinen Zahl von Kundigen eigentlich geläufig bleiben, ſo
iſt die Form als etwas Sichtbares und ſtets ſich Wiederholen-
des die hauptſächlichſte Trägerin des hiſtoriſchen
Continuitätsbewußtſeins des Volks. Je mehr ſich
in den Formen irgend eine ſpäterhin verſchwundene Eigenthüm-
lichkeit ihrer Entſtehungszeit ausgeprägt hat, ſei es der Verfaſ-
ſung, ſei es der Sitte, Mode u. ſ. w., je fremdartiger ſie alſo den
Beſchauer anmuthen und in ihm das Gefühl der hiſtoriſchen
Ferne hervorrufen, wie etwa durch längſt abgekommene Trach-
ten und Moden die Bilder der Ahnen, um deſto mehr ver-
binden ſie ihn andererſeits mit der Vergangenheit, indem ſie
ihm dieſelbe in anſchaulicher und charakteriſtiſcher Weiſe vor-
führen, die Erinnerung der alten Tage, das Gedächtniß der
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/248>, abgerufen am 16.07.2024.
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