Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts. sie nicht gemacht, sondern geworden sind, schließt zwar dieMöglichkeit nicht aus, daß nicht unbewußt und instinctiv das Gefühl des praktischen Nutzens der Form bei ihrer Bildung mitgewirkt habe. 671) Allein daß sie nicht ausschließlich die- sem Motive ihren Ursprung verdanken, daß vielmehr noch an- dere Gründe sowohl bei der ersten Bildung als bei der Erhal- tung derselben wirksam werden, ihr Unterschied von den ten- dentiösen also nicht bloß in der Verschiedenheit der Rechts- quelle besteht, durch die sie eingeführt werden (in welchem Fall die Unterscheidung derselben völlig unberechtigt sein würde), dies, sage ich, läßt sich aus manchem abnehmen. Zunächst aus dem morphologischen Zuschnitt derartiger Formen. Derselbe ist nämlich nicht bloß ungleich voller, reicher, als er durch das rein praktisch-juristische Interesse geboten sein würde (man denke z. B. an die römischen Hochzeitsfeierlichkeiten), sondern er kann ebendadurch mit dem letzteren geradezu in Widerspruch treten. Jeden Zweifel aber beseitigt der Umstand, daß derartige Formen sich auch auf andern Gebieten wiederholen, und zwar auf Gebieten, für die der Gesichtspunkt des praktischen Werths der Form keine Anwendung leidet, wie z. B. auf dem des religiösen Cultus, und eben diese Wahrnehmung kann und muß uns hier auf den rechten Weg leiten, uns nämlich zu der Erkenntniß führen, daß wir in dem Formalismus keine specifisch rechtliche, sondern eine allgemeine cul- turhistorische Erscheinung zu erblicken haben, die innerhalb des Rechts nur einen ungewöhnlich günstigen Boden vorfindet, nur eine besonders gesteigerte Wirksamkeit entfaltet. Der Formalismus in diesem weitesten Sinn bezeichnet ein 671) Auf diesen "der Nation inwohnenden bewußtlosen Bildungstrieb,
in welchem aber das Bedürfniß der heilsamen Folgen wirksam ist" stellt Sa- vigny System B. 3 S. 239 die Sache. Im Obligationenrecht Bd. 2 S. 220 äußert er sich nur dahin, daß diese Formen "auf uralter Volkssitte beruhen." Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. ſie nicht gemacht, ſondern geworden ſind, ſchließt zwar dieMöglichkeit nicht aus, daß nicht unbewußt und inſtinctiv das Gefühl des praktiſchen Nutzens der Form bei ihrer Bildung mitgewirkt habe. 671) Allein daß ſie nicht ausſchließlich die- ſem Motive ihren Urſprung verdanken, daß vielmehr noch an- dere Gründe ſowohl bei der erſten Bildung als bei der Erhal- tung derſelben wirkſam werden, ihr Unterſchied von den ten- dentiöſen alſo nicht bloß in der Verſchiedenheit der Rechts- quelle beſteht, durch die ſie eingeführt werden (in welchem Fall die Unterſcheidung derſelben völlig unberechtigt ſein würde), dies, ſage ich, läßt ſich aus manchem abnehmen. Zunächſt aus dem morphologiſchen Zuſchnitt derartiger Formen. Derſelbe iſt nämlich nicht bloß ungleich voller, reicher, als er durch das rein praktiſch-juriſtiſche Intereſſe geboten ſein würde (man denke z. B. an die römiſchen Hochzeitsfeierlichkeiten), ſondern er kann ebendadurch mit dem letzteren geradezu in Widerſpruch treten. Jeden Zweifel aber beſeitigt der Umſtand, daß derartige Formen ſich auch auf andern Gebieten wiederholen, und zwar auf Gebieten, für die der Geſichtspunkt des praktiſchen Werths der Form keine Anwendung leidet, wie z. B. auf dem des religiöſen Cultus, und eben dieſe Wahrnehmung kann und muß uns hier auf den rechten Weg leiten, uns nämlich zu der Erkenntniß führen, daß wir in dem Formalismus keine ſpecifiſch rechtliche, ſondern eine allgemeine cul- turhiſtoriſche Erſcheinung zu erblicken haben, die innerhalb des Rechts nur einen ungewöhnlich günſtigen Boden vorfindet, nur eine beſonders geſteigerte Wirkſamkeit entfaltet. Der Formalismus in dieſem weiteſten Sinn bezeichnet ein 671) Auf dieſen „der Nation inwohnenden bewußtloſen Bildungstrieb,
in welchem aber das Bedürfniß der heilſamen Folgen wirkſam iſt“ ſtellt Sa- vigny Syſtem B. 3 S. 239 die Sache. Im Obligationenrecht Bd. 2 S. 220 äußert er ſich nur dahin, daß dieſe Formen „auf uralter Volksſitte beruhen.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p><pb facs="#f0238" n="532"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchn. <hi rendition="#aq">III.</hi> Die juriſt. Technik. <hi rendition="#aq">B.</hi> Des ält. Rechts.</fw><lb/> ſie nicht gemacht, ſondern <hi rendition="#g">geworden</hi> ſind, ſchließt zwar die<lb/> Möglichkeit nicht aus, daß nicht unbewußt und inſtinctiv das<lb/> Gefühl des praktiſchen Nutzens der Form bei ihrer Bildung<lb/> mitgewirkt habe. <note place="foot" n="671)">Auf dieſen „der Nation inwohnenden bewußtloſen Bildungstrieb,<lb/> in welchem aber das Bedürfniß der heilſamen Folgen wirkſam iſt“ ſtellt Sa-<lb/> vigny Syſtem B. 3 S. 239 die Sache. Im Obligationenrecht Bd. 2 S. 220<lb/> äußert er ſich nur dahin, daß dieſe Formen „auf uralter Volksſitte beruhen.“</note> Allein daß ſie nicht <hi rendition="#g">ausſchließlich</hi> die-<lb/> ſem Motive ihren Urſprung verdanken, daß vielmehr noch an-<lb/> dere Gründe ſowohl bei der erſten Bildung als bei der Erhal-<lb/> tung derſelben wirkſam werden, ihr Unterſchied von den ten-<lb/> dentiöſen alſo nicht bloß in der Verſchiedenheit der <hi rendition="#g">Rechts-<lb/> quelle</hi> beſteht, durch die ſie eingeführt werden (in welchem<lb/> Fall die Unterſcheidung derſelben völlig unberechtigt ſein würde),<lb/> dies, ſage ich, läßt ſich aus manchem abnehmen. Zunächſt aus<lb/> dem morphologiſchen Zuſchnitt derartiger Formen. Derſelbe iſt<lb/> nämlich nicht bloß ungleich voller, reicher, als er durch das<lb/><hi rendition="#g">rein</hi> praktiſch-juriſtiſche Intereſſe geboten ſein würde (man<lb/> denke z. B. an die römiſchen Hochzeitsfeierlichkeiten), ſondern<lb/> er kann ebendadurch mit dem letzteren geradezu in Widerſpruch<lb/> treten. Jeden Zweifel aber beſeitigt der Umſtand, daß derartige<lb/> Formen ſich auch auf andern Gebieten wiederholen, und zwar<lb/> auf Gebieten, für die der Geſichtspunkt des <hi rendition="#g">praktiſchen<lb/> Werths</hi> der Form keine Anwendung leidet, wie z. B. auf dem<lb/> des religiöſen Cultus, und eben dieſe Wahrnehmung kann und<lb/> muß uns hier auf den rechten Weg leiten, uns nämlich zu der<lb/> Erkenntniß führen, daß wir <hi rendition="#g">in dem Formalismus keine<lb/> ſpecifiſch rechtliche, ſondern eine allgemeine cul-<lb/> turhiſtoriſche Erſcheinung zu erblicken haben, die<lb/> innerhalb des Rechts nur einen ungewöhnlich<lb/> günſtigen Boden vorfindet, nur eine beſonders<lb/> geſteigerte Wirkſamkeit entfaltet</hi>.</p><lb/> <p>Der Formalismus in dieſem weiteſten Sinn bezeichnet ein<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [532/0238]
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
ſie nicht gemacht, ſondern geworden ſind, ſchließt zwar die
Möglichkeit nicht aus, daß nicht unbewußt und inſtinctiv das
Gefühl des praktiſchen Nutzens der Form bei ihrer Bildung
mitgewirkt habe. 671) Allein daß ſie nicht ausſchließlich die-
ſem Motive ihren Urſprung verdanken, daß vielmehr noch an-
dere Gründe ſowohl bei der erſten Bildung als bei der Erhal-
tung derſelben wirkſam werden, ihr Unterſchied von den ten-
dentiöſen alſo nicht bloß in der Verſchiedenheit der Rechts-
quelle beſteht, durch die ſie eingeführt werden (in welchem
Fall die Unterſcheidung derſelben völlig unberechtigt ſein würde),
dies, ſage ich, läßt ſich aus manchem abnehmen. Zunächſt aus
dem morphologiſchen Zuſchnitt derartiger Formen. Derſelbe iſt
nämlich nicht bloß ungleich voller, reicher, als er durch das
rein praktiſch-juriſtiſche Intereſſe geboten ſein würde (man
denke z. B. an die römiſchen Hochzeitsfeierlichkeiten), ſondern
er kann ebendadurch mit dem letzteren geradezu in Widerſpruch
treten. Jeden Zweifel aber beſeitigt der Umſtand, daß derartige
Formen ſich auch auf andern Gebieten wiederholen, und zwar
auf Gebieten, für die der Geſichtspunkt des praktiſchen
Werths der Form keine Anwendung leidet, wie z. B. auf dem
des religiöſen Cultus, und eben dieſe Wahrnehmung kann und
muß uns hier auf den rechten Weg leiten, uns nämlich zu der
Erkenntniß führen, daß wir in dem Formalismus keine
ſpecifiſch rechtliche, ſondern eine allgemeine cul-
turhiſtoriſche Erſcheinung zu erblicken haben, die
innerhalb des Rechts nur einen ungewöhnlich
günſtigen Boden vorfindet, nur eine beſonders
geſteigerte Wirkſamkeit entfaltet.
Der Formalismus in dieſem weiteſten Sinn bezeichnet ein
671) Auf dieſen „der Nation inwohnenden bewußtloſen Bildungstrieb,
in welchem aber das Bedürfniß der heilſamen Folgen wirkſam iſt“ ſtellt Sa-
vigny Syſtem B. 3 S. 239 die Sache. Im Obligationenrecht Bd. 2 S. 220
äußert er ſich nur dahin, daß dieſe Formen „auf uralter Volksſitte beruhen.“
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