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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
kunst angewandt (indem es bei erzwungenen, wucherischen u. a.
Contracten den Schuldner zur Erfüllung, den Gläubiger aber
zur sofortigen Rückgabe zwang), der Erfolg der ganzen Bestim-
mung wäre vorzugsweise Wucherern und Betrügern zu gute
gekommen. Sollte es einen ungünstigen Einfluß auf die Sitt-
lichkeit des Volks gehabt haben, daß die Partikulargesetzgebung
jene Bestimmung nach und nach fast überall aufgehoben hat?
Es ist eine bedeutungsvolle Erscheinung, daß das sittliche Ge-
fühl des Volks gerade bei den Verhältnissen, die der Gesetzgeber
sich selbst überlassen hat, am empfindlichsten ist, gleich als
müßte es sich ihrer in ihrer Hülf- und Schutzlosigkeit doppelt
annehmen, eine Behauptung, deren Wahrheit in Bezug auf
das römische Volk sich uns seiner Zeit an der Gestalt der Infa-
mie im ältern Recht schlagend bewähren wird.

Ich muß sodann noch auf eine andere Seite der Frage auf-
merksam machen. Enthielt es schlechthin eine Unredlichkeit,
wenn ein Römer ein von ihm in unförmlicher Weise abgeschlos-
senes Geschäft (z. B. Tradition einer res mancipi, Versprechen
ohne Stipulationsform) nicht als verbindlich anerkannte? Man
geht dabei unwillkührlich von der Supposition aus, daß es in
seiner Absicht gelegen, sich wirklich zu binden, und daß nur aus
irgend welchem Grunde die erforderliche Form verabsäumt wor-
den sei. Allein es war auch der entgegengesetzte Fall möglich,
nämlich die Unterlassung der Form in der Absicht, um nicht ge-
bunden zu sein, und ich glaube, es ist keine zu kühne Annahme,
wenn man für die ältere Zeit gerade diesen Fall als die Regel
und jenen als Ausnahme setzt. Wenn die Anwendung einer
jedem Römer so geläufigen Form, wie die Stipulation, Man-
cipation u. s. w., unter Verhältnissen unterblieb, die derselben
kein weiteres Hinderniß entgegensetzten, so hieß dies nichts an-
ders, als nach übereinstimmender Absicht der Par-
theien
soll das Rechtsgeschäft keinerlei rechtliche Wirkung ha-
ben, es soll in das Belieben der Parthei gestellt sein, davon
abzugehen. Was wir erst durch eine ausdrückliche Verwahrung

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
kunſt angewandt (indem es bei erzwungenen, wucheriſchen u. a.
Contracten den Schuldner zur Erfüllung, den Gläubiger aber
zur ſofortigen Rückgabe zwang), der Erfolg der ganzen Beſtim-
mung wäre vorzugsweiſe Wucherern und Betrügern zu gute
gekommen. Sollte es einen ungünſtigen Einfluß auf die Sitt-
lichkeit des Volks gehabt haben, daß die Partikulargeſetzgebung
jene Beſtimmung nach und nach faſt überall aufgehoben hat?
Es iſt eine bedeutungsvolle Erſcheinung, daß das ſittliche Ge-
fühl des Volks gerade bei den Verhältniſſen, die der Geſetzgeber
ſich ſelbſt überlaſſen hat, am empfindlichſten iſt, gleich als
müßte es ſich ihrer in ihrer Hülf- und Schutzloſigkeit doppelt
annehmen, eine Behauptung, deren Wahrheit in Bezug auf
das römiſche Volk ſich uns ſeiner Zeit an der Geſtalt der Infa-
mie im ältern Recht ſchlagend bewähren wird.

Ich muß ſodann noch auf eine andere Seite der Frage auf-
merkſam machen. Enthielt es ſchlechthin eine Unredlichkeit,
wenn ein Römer ein von ihm in unförmlicher Weiſe abgeſchloſ-
ſenes Geſchäft (z. B. Tradition einer res mancipi, Verſprechen
ohne Stipulationsform) nicht als verbindlich anerkannte? Man
geht dabei unwillkührlich von der Suppoſition aus, daß es in
ſeiner Abſicht gelegen, ſich wirklich zu binden, und daß nur aus
irgend welchem Grunde die erforderliche Form verabſäumt wor-
den ſei. Allein es war auch der entgegengeſetzte Fall möglich,
nämlich die Unterlaſſung der Form in der Abſicht, um nicht ge-
bunden zu ſein, und ich glaube, es iſt keine zu kühne Annahme,
wenn man für die ältere Zeit gerade dieſen Fall als die Regel
und jenen als Ausnahme ſetzt. Wenn die Anwendung einer
jedem Römer ſo geläufigen Form, wie die Stipulation, Man-
cipation u. ſ. w., unter Verhältniſſen unterblieb, die derſelben
kein weiteres Hinderniß entgegenſetzten, ſo hieß dies nichts an-
ders, als nach übereinſtimmender Abſicht der Par-
theien
ſoll das Rechtsgeſchäft keinerlei rechtliche Wirkung ha-
ben, es ſoll in das Belieben der Parthei geſtellt ſein, davon
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[518/0224] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. kunſt angewandt (indem es bei erzwungenen, wucheriſchen u. a. Contracten den Schuldner zur Erfüllung, den Gläubiger aber zur ſofortigen Rückgabe zwang), der Erfolg der ganzen Beſtim- mung wäre vorzugsweiſe Wucherern und Betrügern zu gute gekommen. Sollte es einen ungünſtigen Einfluß auf die Sitt- lichkeit des Volks gehabt haben, daß die Partikulargeſetzgebung jene Beſtimmung nach und nach faſt überall aufgehoben hat? Es iſt eine bedeutungsvolle Erſcheinung, daß das ſittliche Ge- fühl des Volks gerade bei den Verhältniſſen, die der Geſetzgeber ſich ſelbſt überlaſſen hat, am empfindlichſten iſt, gleich als müßte es ſich ihrer in ihrer Hülf- und Schutzloſigkeit doppelt annehmen, eine Behauptung, deren Wahrheit in Bezug auf das römiſche Volk ſich uns ſeiner Zeit an der Geſtalt der Infa- mie im ältern Recht ſchlagend bewähren wird. Ich muß ſodann noch auf eine andere Seite der Frage auf- merkſam machen. Enthielt es ſchlechthin eine Unredlichkeit, wenn ein Römer ein von ihm in unförmlicher Weiſe abgeſchloſ- ſenes Geſchäft (z. B. Tradition einer res mancipi, Verſprechen ohne Stipulationsform) nicht als verbindlich anerkannte? Man geht dabei unwillkührlich von der Suppoſition aus, daß es in ſeiner Abſicht gelegen, ſich wirklich zu binden, und daß nur aus irgend welchem Grunde die erforderliche Form verabſäumt wor- den ſei. Allein es war auch der entgegengeſetzte Fall möglich, nämlich die Unterlaſſung der Form in der Abſicht, um nicht ge- bunden zu ſein, und ich glaube, es iſt keine zu kühne Annahme, wenn man für die ältere Zeit gerade dieſen Fall als die Regel und jenen als Ausnahme ſetzt. Wenn die Anwendung einer jedem Römer ſo geläufigen Form, wie die Stipulation, Man- cipation u. ſ. w., unter Verhältniſſen unterblieb, die derſelben kein weiteres Hinderniß entgegenſetzten, ſo hieß dies nichts an- ders, als nach übereinſtimmender Abſicht der Par- theien ſoll das Rechtsgeſchäft keinerlei rechtliche Wirkung ha- ben, es ſoll in das Belieben der Parthei geſtellt ſein, davon abzugehen. Was wir erſt durch eine ausdrückliche Verwahrung

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 518. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/224>, abgerufen am 25.11.2024.