Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. etwa eine ausnahmsweise, sporadische, sondern eine förmlich zurRegel und zur zweiten Natur gewordene Nichtbeachtung der Form. So in Rom, wie demnächst ausgeführt werden soll, so aus neuerer Zeit z. B. in den Ländern des preußischen Rechts.662) Das System der bona fides im altrömischen Sinn d. h. des lediglich auf Treu und Glauben basir- ten Verkehrs ist ein nothwendiger Ausfluß des jus strictum, des Systems des Formalismus. So wiederholt sich also hier der bereits oben constatirte Soviel über die beiden Eigenschaften der Gefährlichkeit und 662) So weiß ich z. B. aus meinem Vaterlande Ostfriesland, in dem dieses Recht gilt, daß der ganze Productenhandel des Landes sich über das Erforderniß der schriftlichen Abfassung der Verträge hinwegsetzt. 663) Der neuste an die Oeffentlichkeit getretene Versuch von Stobbe, 33*
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. etwa eine ausnahmsweiſe, ſporadiſche, ſondern eine förmlich zurRegel und zur zweiten Natur gewordene Nichtbeachtung der Form. So in Rom, wie demnächſt ausgeführt werden ſoll, ſo aus neuerer Zeit z. B. in den Ländern des preußiſchen Rechts.662) Das Syſtem der bona fides im altrömiſchen Sinn d. h. des lediglich auf Treu und Glauben baſir- ten Verkehrs iſt ein nothwendiger Ausfluß des jus strictum, des Syſtems des Formalismus. So wiederholt ſich alſo hier der bereits oben conſtatirte Soviel über die beiden Eigenſchaften der Gefährlichkeit und 662) So weiß ich z. B. aus meinem Vaterlande Oſtfriesland, in dem dieſes Recht gilt, daß der ganze Productenhandel des Landes ſich über das Erforderniß der ſchriftlichen Abfaſſung der Verträge hinwegſetzt. 663) Der neuſte an die Oeffentlichkeit getretene Verſuch von Stobbe, 33*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <div n="9"> <p><pb facs="#f0221" n="515"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 45.</fw><lb/> etwa eine ausnahmsweiſe, ſporadiſche, ſondern eine förmlich zur<lb/> Regel und zur zweiten Natur gewordene Nichtbeachtung der Form.<lb/> So in Rom, wie demnächſt ausgeführt werden ſoll, ſo aus<lb/> neuerer Zeit z. B. in den Ländern des preußiſchen Rechts.<note place="foot" n="662)">So weiß ich z. B. aus meinem Vaterlande Oſtfriesland, in dem<lb/> dieſes Recht gilt, daß der ganze Productenhandel des Landes ſich über das<lb/> Erforderniß der ſchriftlichen Abfaſſung der Verträge hinwegſetzt.</note><lb/><hi rendition="#g">Das Syſtem der <hi rendition="#aq">bona fides</hi> im altrömiſchen Sinn<lb/> d. h. des lediglich auf Treu und Glauben baſir-<lb/> ten Verkehrs iſt ein nothwendiger Ausfluß des<lb/><hi rendition="#aq">jus strictum,</hi> des Syſtems des Formalismus</hi>.</p><lb/> <p>So wiederholt ſich alſo hier der bereits oben conſtatirte<lb/> Widerſpruch der Form mit ſich ſelbſt und ihrem eignen Zweck.<lb/> Beſtimmt, dem Verkehr einen <hi rendition="#g">höhern</hi> Grad der Sicherheit zu<lb/> gewähren, veranlaßt ſie ihn umgekehrt, auf alle und jede recht-<lb/> liche Sicherheit Verzicht zu leiſten, eine bequeme Unſicherheit<lb/> einer unbequemen Sicherheit vorzuziehen. Man könnte es als<lb/> eine Selbſtanklage des Formalismus, als das Eingeſtändniß<lb/> ſeiner mangelnden abſoluten Durchführbarkeit bezeichnen.</p><lb/> <p>Soviel über die beiden Eigenſchaften der Gefährlichkeit und<lb/> Unbequemlichkeit, die man meiner Anſicht nach dem Formalis-<lb/> mus mit Recht zum Vorwurf machen kann. Nicht ſo verhält es<lb/> ſich mit einem Vorwurf anderer Art. Er betrifft die <hi rendition="#g">ethiſche</hi><lb/> Seite deſſelben. Derſelbe iſt zwar meines Wiſſens noch von<lb/> Niemanden beſtimmt formulirt und ausgeführt — ſeine Aus-<lb/> führung würde zugleich ſeine Widerlegung geweſen ſein — allein<lb/> die ihm zu Grunde liegende Vorſtellung hat ſich doch in manchen<lb/> Spuren und Anklängen geäußert, und für unklare Köpfe beſitzt<lb/> ſie einen gewiſſen Reiz und Schein. Sie iſt namentlich befördert<lb/> und unterſtützt durch eine hiſtoriſche Annahme, die nicht minder<lb/> irrig iſt, als ſie ſelbſt, nämlich daß das germaniſche Recht von<lb/> jeher dem Grundſatz der Formloſigkeit der Verträge gehuldigt<lb/> habe.<note xml:id="seg2pn_22_1" next="#seg2pn_22_2" place="foot" n="663)">Der neuſte an die Oeffentlichkeit getretene Verſuch von Stobbe,</note> Es bedurfte nur der kleinen Wendung, in unſerm<lb/> <fw place="bottom" type="sig">33*</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [515/0221]
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
etwa eine ausnahmsweiſe, ſporadiſche, ſondern eine förmlich zur
Regel und zur zweiten Natur gewordene Nichtbeachtung der Form.
So in Rom, wie demnächſt ausgeführt werden ſoll, ſo aus
neuerer Zeit z. B. in den Ländern des preußiſchen Rechts. 662)
Das Syſtem der bona fides im altrömiſchen Sinn
d. h. des lediglich auf Treu und Glauben baſir-
ten Verkehrs iſt ein nothwendiger Ausfluß des
jus strictum, des Syſtems des Formalismus.
So wiederholt ſich alſo hier der bereits oben conſtatirte
Widerſpruch der Form mit ſich ſelbſt und ihrem eignen Zweck.
Beſtimmt, dem Verkehr einen höhern Grad der Sicherheit zu
gewähren, veranlaßt ſie ihn umgekehrt, auf alle und jede recht-
liche Sicherheit Verzicht zu leiſten, eine bequeme Unſicherheit
einer unbequemen Sicherheit vorzuziehen. Man könnte es als
eine Selbſtanklage des Formalismus, als das Eingeſtändniß
ſeiner mangelnden abſoluten Durchführbarkeit bezeichnen.
Soviel über die beiden Eigenſchaften der Gefährlichkeit und
Unbequemlichkeit, die man meiner Anſicht nach dem Formalis-
mus mit Recht zum Vorwurf machen kann. Nicht ſo verhält es
ſich mit einem Vorwurf anderer Art. Er betrifft die ethiſche
Seite deſſelben. Derſelbe iſt zwar meines Wiſſens noch von
Niemanden beſtimmt formulirt und ausgeführt — ſeine Aus-
führung würde zugleich ſeine Widerlegung geweſen ſein — allein
die ihm zu Grunde liegende Vorſtellung hat ſich doch in manchen
Spuren und Anklängen geäußert, und für unklare Köpfe beſitzt
ſie einen gewiſſen Reiz und Schein. Sie iſt namentlich befördert
und unterſtützt durch eine hiſtoriſche Annahme, die nicht minder
irrig iſt, als ſie ſelbſt, nämlich daß das germaniſche Recht von
jeher dem Grundſatz der Formloſigkeit der Verträge gehuldigt
habe. 663) Es bedurfte nur der kleinen Wendung, in unſerm
662) So weiß ich z. B. aus meinem Vaterlande Oſtfriesland, in dem
dieſes Recht gilt, daß der ganze Productenhandel des Landes ſich über das
Erforderniß der ſchriftlichen Abfaſſung der Verträge hinwegſetzt.
663) Der neuſte an die Oeffentlichkeit getretene Verſuch von Stobbe,
33*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |