Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
einen formellen Contract kann nur der abschließen, der die Form
weiß und zu handhaben versteht, der etwaige Mangel wird nicht
supplirt. Darum ist die Lage eines Unkundigen oder Unvor-
sichtigen innerhalb eines formellen Rechts oder Rechtstheils
eine ungleich ungünstigere, als auf dem Gebiete des formlosen
Rechts. Namentlich aber, wenn er einem Kundigen gegenüber
steht, der von seiner Unkenntniß oder Arglosigkeit Gebrauch
machen will. Der ehrliche, aber geschäftsunkundige Mann ist
gegenüber dem geriebenen Betrüger in einem formellen Recht
weit mehr im Nachtheil, als in einem formlosen, denn letzterer
besitzt in der Form noch ein höchst brauchbares Mittel mehr, um
ihn zu bestricken, und vorzugsweise für ein formelles Recht gilt
der bekannte Ausspruch: 655) jura vigilantibus scripta sunt.

Die Momente, nach denen sich der Grad der Gefährlichkeit
bestimmt, liegen theils in ihr selbst, theils außer ihr. Für letz-
tere wird sich mir an einer anderen Stelle eine passendere Gele-
genheit bieten (s. 3), ich beschränke mich hier daher auf erstere.
Es sind ihrer drei: das quantitative, morphologische
und principielle oder die Zahl der vorhandenen Formen,
ihr äußerer Zuschnitt und der principielle Charakter der
Bestimmungen über ihre Nothwendigkeit. Dieselben hätten
ganz unabhängig von dem Gesichtspunkt, der uns hier auf sie
führt, ein Anrecht auf unsere Beachtung; es wird nichts im
Wege stehen, ihr letztere auch in diesem Zusammenhange zu
Theil werden zu lassen.

Die Bedeutung des quantitativen Moments bedarf
keiner Ausführung (s. S. 342). Je kleiner die Zahl der Formen,
je mehr einige wenige Grundformen durch das ganze Recht hin-
durch gehen, um so leichter die Kenntniß und Handhabung der-
selben, um so geringer die Gefährlichkeit ihres Gebrauchs.

Unter dem morphologischen Moment der Form ver-
stehe ich die Gestaltung, Zusammensetzung, den Zuschnitt der-

655) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).

Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45.
einen formellen Contract kann nur der abſchließen, der die Form
weiß und zu handhaben verſteht, der etwaige Mangel wird nicht
ſupplirt. Darum iſt die Lage eines Unkundigen oder Unvor-
ſichtigen innerhalb eines formellen Rechts oder Rechtstheils
eine ungleich ungünſtigere, als auf dem Gebiete des formloſen
Rechts. Namentlich aber, wenn er einem Kundigen gegenüber
ſteht, der von ſeiner Unkenntniß oder Argloſigkeit Gebrauch
machen will. Der ehrliche, aber geſchäftsunkundige Mann iſt
gegenüber dem geriebenen Betrüger in einem formellen Recht
weit mehr im Nachtheil, als in einem formloſen, denn letzterer
beſitzt in der Form noch ein höchſt brauchbares Mittel mehr, um
ihn zu beſtricken, und vorzugsweiſe für ein formelles Recht gilt
der bekannte Ausſpruch: 655) jura vigilantibus scripta sunt.

Die Momente, nach denen ſich der Grad der Gefährlichkeit
beſtimmt, liegen theils in ihr ſelbſt, theils außer ihr. Für letz-
tere wird ſich mir an einer anderen Stelle eine paſſendere Gele-
genheit bieten (ſ. 3), ich beſchränke mich hier daher auf erſtere.
Es ſind ihrer drei: das quantitative, morphologiſche
und principielle oder die Zahl der vorhandenen Formen,
ihr äußerer Zuſchnitt und der principielle Charakter der
Beſtimmungen über ihre Nothwendigkeit. Dieſelben hätten
ganz unabhängig von dem Geſichtspunkt, der uns hier auf ſie
führt, ein Anrecht auf unſere Beachtung; es wird nichts im
Wege ſtehen, ihr letztere auch in dieſem Zuſammenhange zu
Theil werden zu laſſen.

Die Bedeutung des quantitativen Moments bedarf
keiner Ausführung (ſ. S. 342). Je kleiner die Zahl der Formen,
je mehr einige wenige Grundformen durch das ganze Recht hin-
durch gehen, um ſo leichter die Kenntniß und Handhabung der-
ſelben, um ſo geringer die Gefährlichkeit ihres Gebrauchs.

Unter dem morphologiſchen Moment der Form ver-
ſtehe ich die Geſtaltung, Zuſammenſetzung, den Zuſchnitt der-

655) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <div n="9">
                        <p><pb facs="#f0213" n="507"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Formalismus. §. 45.</fw><lb/>
einen formellen Contract kann nur der ab&#x017F;chließen, der die Form<lb/>
weiß und zu handhaben ver&#x017F;teht, der etwaige Mangel wird nicht<lb/>
&#x017F;upplirt. Darum i&#x017F;t die Lage eines Unkundigen oder Unvor-<lb/>
&#x017F;ichtigen innerhalb eines formellen Rechts oder Rechtstheils<lb/>
eine ungleich ungün&#x017F;tigere, als auf dem Gebiete des formlo&#x017F;en<lb/>
Rechts. Namentlich aber, wenn er einem Kundigen gegenüber<lb/>
&#x017F;teht, der von &#x017F;einer Unkenntniß oder Arglo&#x017F;igkeit Gebrauch<lb/>
machen will. Der ehrliche, aber ge&#x017F;chäftsunkundige Mann i&#x017F;t<lb/>
gegenüber dem geriebenen Betrüger in einem formellen Recht<lb/>
weit mehr im Nachtheil, als in einem formlo&#x017F;en, denn letzterer<lb/>
be&#x017F;itzt in der Form noch ein höch&#x017F;t brauchbares Mittel mehr, um<lb/>
ihn zu be&#x017F;tricken, und vorzugswei&#x017F;e für ein formelles Recht gilt<lb/>
der bekannte Aus&#x017F;pruch: <note place="foot" n="655)"><hi rendition="#aq">L. 24 i. f. quae in fraud.</hi> (42. 8).</note> <hi rendition="#aq">jura vigilantibus scripta sunt.</hi></p><lb/>
                        <p>Die Momente, nach denen &#x017F;ich der <hi rendition="#g">Grad</hi> der Gefährlichkeit<lb/>
be&#x017F;timmt, liegen theils in ihr &#x017F;elb&#x017F;t, theils außer ihr. Für letz-<lb/>
tere wird &#x017F;ich mir an einer anderen Stelle eine pa&#x017F;&#x017F;endere Gele-<lb/>
genheit bieten (&#x017F;. 3), ich be&#x017F;chränke mich hier daher auf er&#x017F;tere.<lb/>
Es &#x017F;ind ihrer <hi rendition="#g">drei</hi>: das <hi rendition="#g">quantitative, morphologi&#x017F;che</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">principielle</hi> oder die <hi rendition="#g">Zahl</hi> der vorhandenen Formen,<lb/>
ihr äußerer <hi rendition="#g">Zu&#x017F;chnitt</hi> und der <hi rendition="#g">principielle</hi> Charakter der<lb/>
Be&#x017F;timmungen über ihre <hi rendition="#g">Nothwendigkeit</hi>. Die&#x017F;elben hätten<lb/>
ganz unabhängig von dem Ge&#x017F;ichtspunkt, der uns hier auf &#x017F;ie<lb/>
führt, ein Anrecht auf un&#x017F;ere Beachtung; es wird nichts im<lb/>
Wege &#x017F;tehen, ihr letztere auch in die&#x017F;em Zu&#x017F;ammenhange zu<lb/>
Theil werden zu la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
                        <p>Die Bedeutung des <hi rendition="#g">quantitativen Moments</hi> bedarf<lb/>
keiner Ausführung (&#x017F;. S. 342). Je kleiner die Zahl der Formen,<lb/>
je mehr einige wenige Grundformen durch das ganze Recht hin-<lb/>
durch gehen, um &#x017F;o leichter die Kenntniß und Handhabung der-<lb/>
&#x017F;elben, um &#x017F;o geringer die Gefährlichkeit ihres Gebrauchs.</p><lb/>
                        <p>Unter dem <hi rendition="#g">morphologi&#x017F;chen Moment</hi> der Form ver-<lb/>
&#x017F;tehe ich die Ge&#x017F;taltung, Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung, den Zu&#x017F;chnitt der-<lb/></p>
                      </div>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[507/0213] Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 45. einen formellen Contract kann nur der abſchließen, der die Form weiß und zu handhaben verſteht, der etwaige Mangel wird nicht ſupplirt. Darum iſt die Lage eines Unkundigen oder Unvor- ſichtigen innerhalb eines formellen Rechts oder Rechtstheils eine ungleich ungünſtigere, als auf dem Gebiete des formloſen Rechts. Namentlich aber, wenn er einem Kundigen gegenüber ſteht, der von ſeiner Unkenntniß oder Argloſigkeit Gebrauch machen will. Der ehrliche, aber geſchäftsunkundige Mann iſt gegenüber dem geriebenen Betrüger in einem formellen Recht weit mehr im Nachtheil, als in einem formloſen, denn letzterer beſitzt in der Form noch ein höchſt brauchbares Mittel mehr, um ihn zu beſtricken, und vorzugsweiſe für ein formelles Recht gilt der bekannte Ausſpruch: 655) jura vigilantibus scripta sunt. Die Momente, nach denen ſich der Grad der Gefährlichkeit beſtimmt, liegen theils in ihr ſelbſt, theils außer ihr. Für letz- tere wird ſich mir an einer anderen Stelle eine paſſendere Gele- genheit bieten (ſ. 3), ich beſchränke mich hier daher auf erſtere. Es ſind ihrer drei: das quantitative, morphologiſche und principielle oder die Zahl der vorhandenen Formen, ihr äußerer Zuſchnitt und der principielle Charakter der Beſtimmungen über ihre Nothwendigkeit. Dieſelben hätten ganz unabhängig von dem Geſichtspunkt, der uns hier auf ſie führt, ein Anrecht auf unſere Beachtung; es wird nichts im Wege ſtehen, ihr letztere auch in dieſem Zuſammenhange zu Theil werden zu laſſen. Die Bedeutung des quantitativen Moments bedarf keiner Ausführung (ſ. S. 342). Je kleiner die Zahl der Formen, je mehr einige wenige Grundformen durch das ganze Recht hin- durch gehen, um ſo leichter die Kenntniß und Handhabung der- ſelben, um ſo geringer die Gefährlichkeit ihres Gebrauchs. Unter dem morphologiſchen Moment der Form ver- ſtehe ich die Geſtaltung, Zuſammenſetzung, den Zuſchnitt der- 655) L. 24 i. f. quae in fraud. (42. 8).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/213
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/213>, abgerufen am 24.11.2024.