Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts. zur Führung der Vormundschaft absolut unfähig war, hatte dasGesetz sich nicht ausgelassen. Wie war hier zu entscheiden? Wir heutigen Juristen würden hier, vom Zwecke der Vormundschaft aus, folgendermaßen argumentiren. Ob überall kein Vormund existirt oder derselbe unfähig ist, steht sich völlig gleich; wenn also das Gesetz dem Bedürfniß nach Vormündern Abhülfe gewäh- ren will, so muß die Bestimmung desselben in dem einen sowohl wie in dem andern Fall Platz greifen. Die alte Jurisprudenz hingegen hält sich hier an die Worte des Gesetzes, welche den Personen, "die keine Vormünder haben," einen solchen zu bestellen be- fehlen. 623) Eine Person, sagt sie, deren Vormund wahnsinnig oder sonst unfähig ist, hat einen Vormund. Es bedurfte erst verschiedener Senatsbeschlüsse, um diese Doctrin nach allen An- wendungen hin zu beseitigen. 624) Als letztes Beispiel möge genannt sein die bereits bei einer So scheint also nach allen diesen Beispielen ein absolutes 623) Ulp. XI, 18 hat die Fassung: mulieribus pupillisve non ha- bentibus tutores, Gaj. l §. 185 und die Institutionen in pr. I. de Atil. tut. (L. 20): si cui nullus omnino tutor sit. 624) L. 17 de tut. (26. 1). 625) L. 84 de V. S. (50. 16): filii appellatione omnes liberos
intelligimus. Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts. zur Führung der Vormundſchaft abſolut unfähig war, hatte dasGeſetz ſich nicht ausgelaſſen. Wie war hier zu entſcheiden? Wir heutigen Juriſten würden hier, vom Zwecke der Vormundſchaft aus, folgendermaßen argumentiren. Ob überall kein Vormund exiſtirt oder derſelbe unfähig iſt, ſteht ſich völlig gleich; wenn alſo das Geſetz dem Bedürfniß nach Vormündern Abhülfe gewäh- ren will, ſo muß die Beſtimmung deſſelben in dem einen ſowohl wie in dem andern Fall Platz greifen. Die alte Jurisprudenz hingegen hält ſich hier an die Worte des Geſetzes, welche den Perſonen, „die keine Vormünder haben,“ einen ſolchen zu beſtellen be- fehlen. 623) Eine Perſon, ſagt ſie, deren Vormund wahnſinnig oder ſonſt unfähig iſt, hat einen Vormund. Es bedurfte erſt verſchiedener Senatsbeſchlüſſe, um dieſe Doctrin nach allen An- wendungen hin zu beſeitigen. 624) Als letztes Beiſpiel möge genannt ſein die bereits bei einer So ſcheint alſo nach allen dieſen Beiſpielen ein abſolutes 623) Ulp. XI, 18 hat die Faſſung: mulieribus pupillisve non ha- bentibus tutores, Gaj. l §. 185 und die Inſtitutionen in pr. I. de Atil. tut. (L. 20): si cui nullus omnino tutor sit. 624) L. 17 de tut. (26. 1). 625) L. 84 de V. S. (50. 16): filii appellatione omnes liberos
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
zur Führung der Vormundſchaft abſolut unfähig war, hatte das
Geſetz ſich nicht ausgelaſſen. Wie war hier zu entſcheiden? Wir
heutigen Juriſten würden hier, vom Zwecke der Vormundſchaft
aus, folgendermaßen argumentiren. Ob überall kein Vormund
exiſtirt oder derſelbe unfähig iſt, ſteht ſich völlig gleich; wenn
alſo das Geſetz dem Bedürfniß nach Vormündern Abhülfe gewäh-
ren will, ſo muß die Beſtimmung deſſelben in dem einen ſowohl wie
in dem andern Fall Platz greifen. Die alte Jurisprudenz hingegen
hält ſich hier an die Worte des Geſetzes, welche den Perſonen,
„die keine Vormünder haben,“ einen ſolchen zu beſtellen be-
fehlen. 623) Eine Perſon, ſagt ſie, deren Vormund wahnſinnig
oder ſonſt unfähig iſt, hat einen Vormund. Es bedurfte erſt
verſchiedener Senatsbeſchlüſſe, um dieſe Doctrin nach allen An-
wendungen hin zu beſeitigen. 624)
Als letztes Beiſpiel möge genannt ſein die bereits bei einer
früheren Gelegenheit (S. 190) berückſichtigte Stelle der Zwölf
Tafeln über den Verkauf des Sohnes von Seiten des Vaters:
Si pater filium ter venumduit, filius a patre liber esto. Die
Stelle erwähnte bloß den „filius,“ während es doch ſchwerlich
die Abſicht des Geſetzes geweſen, ſich lediglich des Sohnes an-
zunehmen, Töchter und Enkel aber gänzlich ſchutzlos zu laſſen.
Die ſpätern Juriſten würden den Ausdruck filius, wie ſie es
ſonſt thun, 625) auch auf letztere erſtreckt haben, allein die ältern
bezogen ihn ſtreng wörtlich nur auf den Sohn.
So ſcheint alſo nach allen dieſen Beiſpielen ein abſolutes
Haften am Wort der Charakterzug der ältern Interpretation zu
ſein. Allein, wie bereits bemerkt, es iſt Schein. Um uns da-
von zu überzeugen, ſtellen wir zunächſt eine Reihe anderer Fälle
623) Ulp. XI, 18 hat die Faſſung: mulieribus pupillisve non ha-
bentibus tutores, Gaj. l §. 185 und die Inſtitutionen in pr. I. de Atil.
tut. (L. 20): si cui nullus omnino tutor sit.
624) L. 17 de tut. (26. 1).
625) L. 84 de V. S. (50. 16): filii appellatione omnes liberos
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