Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
wahren Willensmeinung des Sprechenden, als billiges Recht auf der andern Seite.
Dem ältern Recht war dieser Gegensatz fremd. Die Ver- hältnisse, bei denen die subjective Interpretation Platz greift, sind sämmtlich erst in späterer Zeit klagbar geworden; rücksicht- lich der Fideicommisse ist dies bekannt, rücksichtlich der Verträge des jus gentium wird der Beweis an einer andern Stelle er- bracht werden; für das ältere Recht bleibt demnach nur die Wortinterpretation übrig.
Um nun ein Bild von derselben zu entwerfen, dazu reichen unsere directen Quellenäußerungen nicht aus, denn sie beschrän- ken sich auf eine ganz allgemeine Charakteristik derselben als einer mit äußerster Strenge und minutiöser Peinlichkeit verfah- renden Wortinterpretation (s. die Anm. 610). Dagegen gibt es für uns eine indirecte Quelle, die diesen Mangel vollständig ersetzt und es uns namentlich ermöglicht, unsere Schilderung durch Beispiele anschaulicher zu machen, nämlich die Wortinter- pretation des spätern Rechts. Mag auch nicht das ganze Material, das wir hier vorfinden, der ältern Zeit entstammen, mögen immerhin auch die spätern Juristen manches Einzelne erst hinzugefügt haben, darüber, meine ich, wird wohl kein Zweifel sein können, daß nicht bloß die Wortinterpretation selbst, ihre ganze Methode und Weise, sondern auch der größte Theil des Materials ein Vermächtniß der älteren Jurisprudenz ist, und daß der Geist, in dem sie gehandhabt ward, im Lauf der Zeit wohl ein milderer, unmöglich aber ein strengerer ge- worden sein kann.
Oberster Grundsatz der Wortinterpretation nun, so wie sie sich in der spätern Jurisprudenz erhalten, ist, daß alles, was gewollt, ausdrücklich gesagt sein muß; was gewollt, aber nicht gesagt, kommt nicht in Betracht, während umgekehrt was ge- sagt, aber nicht in dem Umfang gewollt ist, gilt, ungeachtet in beiden Fällen die Discrepanz des Wortes und Willens mit
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
wahren Willensmeinung des Sprechenden, als billiges Recht auf der andern Seite.
Dem ältern Recht war dieſer Gegenſatz fremd. Die Ver- hältniſſe, bei denen die ſubjective Interpretation Platz greift, ſind ſämmtlich erſt in ſpäterer Zeit klagbar geworden; rückſicht- lich der Fideicommiſſe iſt dies bekannt, rückſichtlich der Verträge des jus gentium wird der Beweis an einer andern Stelle er- bracht werden; für das ältere Recht bleibt demnach nur die Wortinterpretation übrig.
Um nun ein Bild von derſelben zu entwerfen, dazu reichen unſere directen Quellenäußerungen nicht aus, denn ſie beſchrän- ken ſich auf eine ganz allgemeine Charakteriſtik derſelben als einer mit äußerſter Strenge und minutiöſer Peinlichkeit verfah- renden Wortinterpretation (ſ. die Anm. 610). Dagegen gibt es für uns eine indirecte Quelle, die dieſen Mangel vollſtändig erſetzt und es uns namentlich ermöglicht, unſere Schilderung durch Beiſpiele anſchaulicher zu machen, nämlich die Wortinter- pretation des ſpätern Rechts. Mag auch nicht das ganze Material, das wir hier vorfinden, der ältern Zeit entſtammen, mögen immerhin auch die ſpätern Juriſten manches Einzelne erſt hinzugefügt haben, darüber, meine ich, wird wohl kein Zweifel ſein können, daß nicht bloß die Wortinterpretation ſelbſt, ihre ganze Methode und Weiſe, ſondern auch der größte Theil des Materials ein Vermächtniß der älteren Jurisprudenz iſt, und daß der Geiſt, in dem ſie gehandhabt ward, im Lauf der Zeit wohl ein milderer, unmöglich aber ein ſtrengerer ge- worden ſein kann.
Oberſter Grundſatz der Wortinterpretation nun, ſo wie ſie ſich in der ſpätern Jurisprudenz erhalten, iſt, daß alles, was gewollt, ausdrücklich geſagt ſein muß; was gewollt, aber nicht geſagt, kommt nicht in Betracht, während umgekehrt was ge- ſagt, aber nicht in dem Umfang gewollt iſt, gilt, ungeachtet in beiden Fällen die Discrepanz des Wortes und Willens mit
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
wahren Willensmeinung des Sprechenden, als billiges Recht
auf der andern Seite.
Dem ältern Recht war dieſer Gegenſatz fremd. Die Ver-
hältniſſe, bei denen die ſubjective Interpretation Platz greift,
ſind ſämmtlich erſt in ſpäterer Zeit klagbar geworden; rückſicht-
lich der Fideicommiſſe iſt dies bekannt, rückſichtlich der Verträge
des jus gentium wird der Beweis an einer andern Stelle er-
bracht werden; für das ältere Recht bleibt demnach nur die
Wortinterpretation übrig.
Um nun ein Bild von derſelben zu entwerfen, dazu reichen
unſere directen Quellenäußerungen nicht aus, denn ſie beſchrän-
ken ſich auf eine ganz allgemeine Charakteriſtik derſelben als
einer mit äußerſter Strenge und minutiöſer Peinlichkeit verfah-
renden Wortinterpretation (ſ. die Anm. 610). Dagegen gibt
es für uns eine indirecte Quelle, die dieſen Mangel vollſtändig
erſetzt und es uns namentlich ermöglicht, unſere Schilderung
durch Beiſpiele anſchaulicher zu machen, nämlich die Wortinter-
pretation des ſpätern Rechts. Mag auch nicht das ganze
Material, das wir hier vorfinden, der ältern Zeit entſtammen,
mögen immerhin auch die ſpätern Juriſten manches Einzelne
erſt hinzugefügt haben, darüber, meine ich, wird wohl kein
Zweifel ſein können, daß nicht bloß die Wortinterpretation
ſelbſt, ihre ganze Methode und Weiſe, ſondern auch der größte
Theil des Materials ein Vermächtniß der älteren Jurisprudenz
iſt, und daß der Geiſt, in dem ſie gehandhabt ward, im Lauf
der Zeit wohl ein milderer, unmöglich aber ein ſtrengerer ge-
worden ſein kann.
Oberſter Grundſatz der Wortinterpretation nun, ſo wie ſie
ſich in der ſpätern Jurisprudenz erhalten, iſt, daß alles, was
gewollt, ausdrücklich geſagt ſein muß; was gewollt, aber nicht
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/182>, abgerufen am 16.02.2025.
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