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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
weit entfernt zum Vorwurf zu gereichen, als Beweis des Scharf-
sinns und der Ueberlegenheit galt, und wo die entgegengesetzte
freiere Interpretation, die die spätere Jurisprudenz namentlich
bei den Verträgen des jus gentium zur Anwendung brachte,
nicht bloß auf kein Verständniß, sondern auf die entschiedenste
Opposition hätte rechnen dürfen. Es gehörten viele Jahrhun-
derte dazu, um die Jurisprudenz sowohl wie das Volk in dieser
Beziehung umzustimmen und einer freieren Art der Auslegung
zugänglich zu machen.

Die Herrschaft des Worts im ältern Recht äußert sich nach
zwei Seiten hin, oder was dasselbe sagen will, der Wille ist
rücksichtlich des Gebrauchs der Worte in doppelter Weise be-
schränkt. Einmal nämlich dadurch, daß ihm die Wahl derselben
bis zu einem gewissen Grade völlig entzogen ist, indem die gül-
tige Vornahme der verschiedenen Rechtsgeschäfte an den Ge-
brauch gewisser Stichworte oder stehender Formeln gebunden
ist. Andererseits aber, auch insoweit die Wahl der Worte für
die Fassung des concreten Willensinhalts ihm selbst anheim
fällt, dadurch daß es hierbei der peinlichsten Genauigkeit und
Achtsamkeit bedarf, indem vermöge des Princips der Wort-
interpretation nur das als gesetzt und gewollt gilt, was direct
und ausdrücklich gesagt ist. Dort handelt es sich um eine typi-
sche, abstracte, hier um die rein individuelle, concrete Form,
und wir könnten daher von zwei formalistischen Beschrän-
kungen sprechen und beide mit dem Zusatz abstract und concret
unter dem Ausdruck Formalismus zusammenfassen. Da
jedoch der Sprachgebrauch diesem Ausdruck einmal eine aus-
schließliche Beziehung auf das erste Verhältniß gegeben hat,
so stehe ich um so eher davon ab, als mir ein solches Bedürfniß
der Zusammenfassung beider unter einen Namen überall nicht

leitete, so mußte einem Redner, wie ihm, dem man alles andere eher vorwer-
fen kann, als Aengstlichkeit im Gebrauch seiner Worte, oder gar einem Lite-
raten, wie Mommsen ihn nennt, jenes peinliche und scrupulöse Abwägen der
Worte von Seiten der Juristen doppelt anstößig sein.

Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
weit entfernt zum Vorwurf zu gereichen, als Beweis des Scharf-
ſinns und der Ueberlegenheit galt, und wo die entgegengeſetzte
freiere Interpretation, die die ſpätere Jurisprudenz namentlich
bei den Verträgen des jus gentium zur Anwendung brachte,
nicht bloß auf kein Verſtändniß, ſondern auf die entſchiedenſte
Oppoſition hätte rechnen dürfen. Es gehörten viele Jahrhun-
derte dazu, um die Jurisprudenz ſowohl wie das Volk in dieſer
Beziehung umzuſtimmen und einer freieren Art der Auslegung
zugänglich zu machen.

Die Herrſchaft des Worts im ältern Recht äußert ſich nach
zwei Seiten hin, oder was daſſelbe ſagen will, der Wille iſt
rückſichtlich des Gebrauchs der Worte in doppelter Weiſe be-
ſchränkt. Einmal nämlich dadurch, daß ihm die Wahl derſelben
bis zu einem gewiſſen Grade völlig entzogen iſt, indem die gül-
tige Vornahme der verſchiedenen Rechtsgeſchäfte an den Ge-
brauch gewiſſer Stichworte oder ſtehender Formeln gebunden
iſt. Andererſeits aber, auch inſoweit die Wahl der Worte für
die Faſſung des concreten Willensinhalts ihm ſelbſt anheim
fällt, dadurch daß es hierbei der peinlichſten Genauigkeit und
Achtſamkeit bedarf, indem vermöge des Princips der Wort-
interpretation nur das als geſetzt und gewollt gilt, was direct
und ausdrücklich geſagt iſt. Dort handelt es ſich um eine typi-
ſche, abſtracte, hier um die rein individuelle, concrete Form,
und wir könnten daher von zwei formaliſtiſchen Beſchrän-
kungen ſprechen und beide mit dem Zuſatz abſtract und concret
unter dem Ausdruck Formalismus zuſammenfaſſen. Da
jedoch der Sprachgebrauch dieſem Ausdruck einmal eine aus-
ſchließliche Beziehung auf das erſte Verhältniß gegeben hat,
ſo ſtehe ich um ſo eher davon ab, als mir ein ſolches Bedürfniß
der Zuſammenfaſſung beider unter einen Namen überall nicht

leitete, ſo mußte einem Redner, wie ihm, dem man alles andere eher vorwer-
fen kann, als Aengſtlichkeit im Gebrauch ſeiner Worte, oder gar einem Lite-
raten, wie Mommſen ihn nennt, jenes peinliche und ſcrupulöſe Abwägen der
Worte von Seiten der Juriſten doppelt anſtößig ſein.
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[469/0175] Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. weit entfernt zum Vorwurf zu gereichen, als Beweis des Scharf- ſinns und der Ueberlegenheit galt, und wo die entgegengeſetzte freiere Interpretation, die die ſpätere Jurisprudenz namentlich bei den Verträgen des jus gentium zur Anwendung brachte, nicht bloß auf kein Verſtändniß, ſondern auf die entſchiedenſte Oppoſition hätte rechnen dürfen. Es gehörten viele Jahrhun- derte dazu, um die Jurisprudenz ſowohl wie das Volk in dieſer Beziehung umzuſtimmen und einer freieren Art der Auslegung zugänglich zu machen. Die Herrſchaft des Worts im ältern Recht äußert ſich nach zwei Seiten hin, oder was daſſelbe ſagen will, der Wille iſt rückſichtlich des Gebrauchs der Worte in doppelter Weiſe be- ſchränkt. Einmal nämlich dadurch, daß ihm die Wahl derſelben bis zu einem gewiſſen Grade völlig entzogen iſt, indem die gül- tige Vornahme der verſchiedenen Rechtsgeſchäfte an den Ge- brauch gewiſſer Stichworte oder ſtehender Formeln gebunden iſt. Andererſeits aber, auch inſoweit die Wahl der Worte für die Faſſung des concreten Willensinhalts ihm ſelbſt anheim fällt, dadurch daß es hierbei der peinlichſten Genauigkeit und Achtſamkeit bedarf, indem vermöge des Princips der Wort- interpretation nur das als geſetzt und gewollt gilt, was direct und ausdrücklich geſagt iſt. Dort handelt es ſich um eine typi- ſche, abſtracte, hier um die rein individuelle, concrete Form, und wir könnten daher von zwei formaliſtiſchen Beſchrän- kungen ſprechen und beide mit dem Zuſatz abſtract und concret unter dem Ausdruck Formalismus zuſammenfaſſen. Da jedoch der Sprachgebrauch dieſem Ausdruck einmal eine aus- ſchließliche Beziehung auf das erſte Verhältniß gegeben hat, ſo ſtehe ich um ſo eher davon ab, als mir ein ſolches Bedürfniß der Zuſammenfaſſung beider unter einen Namen überall nicht 610) 610) leitete, ſo mußte einem Redner, wie ihm, dem man alles andere eher vorwer- fen kann, als Aengſtlichkeit im Gebrauch ſeiner Worte, oder gar einem Lite- raten, wie Mommſen ihn nennt, jenes peinliche und ſcrupulöſe Abwägen der Worte von Seiten der Juriſten doppelt anſtößig ſein.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/175>, abgerufen am 24.11.2024.