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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Die Jurisprudenz. §. 42.
vorgeht, daß die einzige eigentliche Prozeßform, die wir für
das ältere Recht annehmen dürfen, die legis actio sacramento 536)
in ihrer ursprünglichen Gestalt unverkennbar auf eine Mitwir-
kung von ihrer Seite hinweist. Das sacramentum ward an-
fänglich bei dem pons publicius (Bd. 1 S. 266) deponirt und
fiel nicht, wie später, dem Staat, sondern dem religiösen Fond
zu. Den Gerichtshof der Pontifices dürfen wir nun für jene Zeit
als den Sitz der eigentlichen Justiz und Jurisprudenz bezeich-
nen, und wir brauchen bloß den Umstand, daß es eine ständige
und geistliche Behörde war, in Anschlag zu bringen, um die
Nachrichten über den Charakter und die Stellung der ältesten Ju-
risprudenz begreiflich zu finden. Wären die Pontifices auch von
jener Tendenz nach einem esoterischen Wissen, die alle Priester-
schaften des Alterthums beseelte, völlig frei gewesen -- und in
dieser Allgemeinheit wäre die Behauptung mehr als gewagt,
denn in der römischen Religion tritt der Zug nach dem Geheim-
nißvollen deutlich hervor -- bei einer Genossenschaft, deren ver-
fassungsmäßiger Beruf das Wissen und die Gelehrsamkeit war,
deren Stellung nicht bloß eine höhere Einsicht, sondern auch
die Verpflichtung, den Glauben daran im Volk zu erhalten, mit
sich brachte, die aus lebenslänglichen sich selbst ergänzenden Mit-
gliedern patricischen Standes bestand, bei einer solchen Genos-
senschaft mußte das Recht mit Nothwendigkeit einer gewissen
gelehrten Abgeschlossenheit verfallen, und die erforderliche Kennt-
niß desselben sich mehr und mehr auf das Collegium zurückzie-
hen. Man hat dies "im Angesicht der Volkssitte, in der das
Recht lebte und webte, der geschriebenen Gesetze, die öffentlich
ausgestellt waren, endlich der allervollkommensten Oeffentlichkeit
der Gerichte" (Puchta) für unmöglich gehalten und die Differenz

536) Von den fünf legis actiones war die per pignoris capionem eine
außergerichtliche, die per manus injectionem und per judicis postulatio-
nem
gehörte ausschließlich vor den Magistrat, die durch sacramentum aus-
schließlich vor die pontifices; von der per condictionem wird unten die
Rede sein.
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Die Jurisprudenz. §. 42.
vorgeht, daß die einzige eigentliche Prozeßform, die wir für
das ältere Recht annehmen dürfen, die legis actio sacramento 536)
in ihrer urſprünglichen Geſtalt unverkennbar auf eine Mitwir-
kung von ihrer Seite hinweiſt. Das sacramentum ward an-
fänglich bei dem pons publicius (Bd. 1 S. 266) deponirt und
fiel nicht, wie ſpäter, dem Staat, ſondern dem religiöſen Fond
zu. Den Gerichtshof der Pontifices dürfen wir nun für jene Zeit
als den Sitz der eigentlichen Juſtiz und Jurisprudenz bezeich-
nen, und wir brauchen bloß den Umſtand, daß es eine ſtändige
und geiſtliche Behörde war, in Anſchlag zu bringen, um die
Nachrichten über den Charakter und die Stellung der älteſten Ju-
risprudenz begreiflich zu finden. Wären die Pontifices auch von
jener Tendenz nach einem eſoteriſchen Wiſſen, die alle Prieſter-
ſchaften des Alterthums beſeelte, völlig frei geweſen — und in
dieſer Allgemeinheit wäre die Behauptung mehr als gewagt,
denn in der römiſchen Religion tritt der Zug nach dem Geheim-
nißvollen deutlich hervor — bei einer Genoſſenſchaft, deren ver-
faſſungsmäßiger Beruf das Wiſſen und die Gelehrſamkeit war,
deren Stellung nicht bloß eine höhere Einſicht, ſondern auch
die Verpflichtung, den Glauben daran im Volk zu erhalten, mit
ſich brachte, die aus lebenslänglichen ſich ſelbſt ergänzenden Mit-
gliedern patriciſchen Standes beſtand, bei einer ſolchen Genoſ-
ſenſchaft mußte das Recht mit Nothwendigkeit einer gewiſſen
gelehrten Abgeſchloſſenheit verfallen, und die erforderliche Kennt-
niß deſſelben ſich mehr und mehr auf das Collegium zurückzie-
hen. Man hat dies „im Angeſicht der Volksſitte, in der das
Recht lebte und webte, der geſchriebenen Geſetze, die öffentlich
ausgeſtellt waren, endlich der allervollkommenſten Oeffentlichkeit
der Gerichte“ (Puchta) für unmöglich gehalten und die Differenz

536) Von den fünf legis actiones war die per pignoris capionem eine
außergerichtliche, die per manus injectionem und per judicis postulatio-
nem
gehörte ausſchließlich vor den Magiſtrat, die durch sacramentum aus-
ſchließlich vor die pontifices; von der per condictionem wird unten die
Rede ſein.
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[419/0125] Die Jurisprudenz. §. 42. vorgeht, daß die einzige eigentliche Prozeßform, die wir für das ältere Recht annehmen dürfen, die legis actio sacramento 536) in ihrer urſprünglichen Geſtalt unverkennbar auf eine Mitwir- kung von ihrer Seite hinweiſt. Das sacramentum ward an- fänglich bei dem pons publicius (Bd. 1 S. 266) deponirt und fiel nicht, wie ſpäter, dem Staat, ſondern dem religiöſen Fond zu. Den Gerichtshof der Pontifices dürfen wir nun für jene Zeit als den Sitz der eigentlichen Juſtiz und Jurisprudenz bezeich- nen, und wir brauchen bloß den Umſtand, daß es eine ſtändige und geiſtliche Behörde war, in Anſchlag zu bringen, um die Nachrichten über den Charakter und die Stellung der älteſten Ju- risprudenz begreiflich zu finden. Wären die Pontifices auch von jener Tendenz nach einem eſoteriſchen Wiſſen, die alle Prieſter- ſchaften des Alterthums beſeelte, völlig frei geweſen — und in dieſer Allgemeinheit wäre die Behauptung mehr als gewagt, denn in der römiſchen Religion tritt der Zug nach dem Geheim- nißvollen deutlich hervor — bei einer Genoſſenſchaft, deren ver- faſſungsmäßiger Beruf das Wiſſen und die Gelehrſamkeit war, deren Stellung nicht bloß eine höhere Einſicht, ſondern auch die Verpflichtung, den Glauben daran im Volk zu erhalten, mit ſich brachte, die aus lebenslänglichen ſich ſelbſt ergänzenden Mit- gliedern patriciſchen Standes beſtand, bei einer ſolchen Genoſ- ſenſchaft mußte das Recht mit Nothwendigkeit einer gewiſſen gelehrten Abgeſchloſſenheit verfallen, und die erforderliche Kennt- niß deſſelben ſich mehr und mehr auf das Collegium zurückzie- hen. Man hat dies „im Angeſicht der Volksſitte, in der das Recht lebte und webte, der geſchriebenen Geſetze, die öffentlich ausgeſtellt waren, endlich der allervollkommenſten Oeffentlichkeit der Gerichte“ (Puchta) für unmöglich gehalten und die Differenz 536) Von den fünf legis actiones war die per pignoris capionem eine außergerichtliche, die per manus injectionem und per judicis postulatio- nem gehörte ausſchließlich vor den Magiſtrat, die durch sacramentum aus- ſchließlich vor die pontifices; von der per condictionem wird unten die Rede ſein. 27*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/125>, abgerufen am 24.11.2024.