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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Die Jurisprudenz. §. 42.
Thatsachen, von denen die Tradition zu berichten weiß. Ja sie
gibt ihm sogar die Gestalt einer förmlichen Geheimnißkrämerei,
die die Juristen mit dem Recht getrieben, um sich dem Volk
unentbehrlich zu machen. 532) Die historische Kritik hat diese
Mittheilung als eine handgreifliche Erdichtung einfach zur Seite
schieben wollen; 533) richtiger wäre es gewesen zu fragen, wie
sich, wenn an der Sache gar nichts Wahres gewesen, eine solche
Fabel hätte bilden können? Man hüte sich nur, die Uebertrei-
bung erst selbst hineinzutragen. Daß das Volk sich in völliger
Unkunde des Rechts befunden, wäre allerdings unglaublich,
allein das ist doch nicht der Sinn jener Erzählung. Sondern
der Sinn ist der: daß das Recht durch die Jurisprudenz dem
Volk entfremdet worden sei, daß sich neben dem Volksrecht ein
Juristenrecht gebildet habe, und diese Thatsache ist so wenig auf-
fällig, daß sie im Gegentheil die unausbleibliche Folge ist, die
sich historisch überall an das Auftreten und Wirken der Juris-
prudenz knüpft. Die Sage hat diese Thatsache nur in ihrer
Weise ausgeschmückt, indem sie, wie sie es so gern thut, als
Werk der Absicht hinstellt, was ein unbeabsichtigtes und unver-
meidliches Resultat der Verhältnisse ist. In jener Sage besitzen
wir also einen Bericht über einen der wichtigsten Wendepunkte
in der Geschichte des römischen Rechts, den Uebergang von der
naiven Auffassung des Rechts zur Reflexion d. h. zur Jurispru-
denz, und zwar besteht das Interessante und Beachtenswerthe
dieses Berichts in zweierlei. Zuerst theilt er uns mit die Zeit,
wann dieser Wendepunkt eingetreten ist, nämlich bald nach den
XII Tafeln, und sodann -- zwar nicht mit dürren Worten, aber
für Jeden, der Sagen zu lesen versteht, nicht minder deutlich --
wie tief der Riß, der damit erfolgte, vom Volk empfunden sein
muß, welch' bleibenden Eindruck dieser Umschwung in der Erin-

532) L. 2 §. 35 de orig. jur. (1. 2). Liv. IX, 46. Cicero pro Murena
c. 11. Val. Max. II, 5 §. 2.
533) Puchta Cursus der Inst. Bd. 1 §. 17.
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 27

Die Jurisprudenz. §. 42.
Thatſachen, von denen die Tradition zu berichten weiß. Ja ſie
gibt ihm ſogar die Geſtalt einer förmlichen Geheimnißkrämerei,
die die Juriſten mit dem Recht getrieben, um ſich dem Volk
unentbehrlich zu machen. 532) Die hiſtoriſche Kritik hat dieſe
Mittheilung als eine handgreifliche Erdichtung einfach zur Seite
ſchieben wollen; 533) richtiger wäre es geweſen zu fragen, wie
ſich, wenn an der Sache gar nichts Wahres geweſen, eine ſolche
Fabel hätte bilden können? Man hüte ſich nur, die Uebertrei-
bung erſt ſelbſt hineinzutragen. Daß das Volk ſich in völliger
Unkunde des Rechts befunden, wäre allerdings unglaublich,
allein das iſt doch nicht der Sinn jener Erzählung. Sondern
der Sinn iſt der: daß das Recht durch die Jurisprudenz dem
Volk entfremdet worden ſei, daß ſich neben dem Volksrecht ein
Juriſtenrecht gebildet habe, und dieſe Thatſache iſt ſo wenig auf-
fällig, daß ſie im Gegentheil die unausbleibliche Folge iſt, die
ſich hiſtoriſch überall an das Auftreten und Wirken der Juris-
prudenz knüpft. Die Sage hat dieſe Thatſache nur in ihrer
Weiſe ausgeſchmückt, indem ſie, wie ſie es ſo gern thut, als
Werk der Abſicht hinſtellt, was ein unbeabſichtigtes und unver-
meidliches Reſultat der Verhältniſſe iſt. In jener Sage beſitzen
wir alſo einen Bericht über einen der wichtigſten Wendepunkte
in der Geſchichte des römiſchen Rechts, den Uebergang von der
naiven Auffaſſung des Rechts zur Reflexion d. h. zur Jurispru-
denz, und zwar beſteht das Intereſſante und Beachtenswerthe
dieſes Berichts in zweierlei. Zuerſt theilt er uns mit die Zeit,
wann dieſer Wendepunkt eingetreten iſt, nämlich bald nach den
XII Tafeln, und ſodann — zwar nicht mit dürren Worten, aber
für Jeden, der Sagen zu leſen verſteht, nicht minder deutlich —
wie tief der Riß, der damit erfolgte, vom Volk empfunden ſein
muß, welch’ bleibenden Eindruck dieſer Umſchwung in der Erin-

532) L. 2 §. 35 de orig. jur. (1. 2). Liv. IX, 46. Cicero pro Murena
c. 11. Val. Max. II, 5 §. 2.
533) Puchta Curſus der Inſt. Bd. 1 §. 17.
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 27
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[417/0123] Die Jurisprudenz. §. 42. Thatſachen, von denen die Tradition zu berichten weiß. Ja ſie gibt ihm ſogar die Geſtalt einer förmlichen Geheimnißkrämerei, die die Juriſten mit dem Recht getrieben, um ſich dem Volk unentbehrlich zu machen. 532) Die hiſtoriſche Kritik hat dieſe Mittheilung als eine handgreifliche Erdichtung einfach zur Seite ſchieben wollen; 533) richtiger wäre es geweſen zu fragen, wie ſich, wenn an der Sache gar nichts Wahres geweſen, eine ſolche Fabel hätte bilden können? Man hüte ſich nur, die Uebertrei- bung erſt ſelbſt hineinzutragen. Daß das Volk ſich in völliger Unkunde des Rechts befunden, wäre allerdings unglaublich, allein das iſt doch nicht der Sinn jener Erzählung. Sondern der Sinn iſt der: daß das Recht durch die Jurisprudenz dem Volk entfremdet worden ſei, daß ſich neben dem Volksrecht ein Juriſtenrecht gebildet habe, und dieſe Thatſache iſt ſo wenig auf- fällig, daß ſie im Gegentheil die unausbleibliche Folge iſt, die ſich hiſtoriſch überall an das Auftreten und Wirken der Juris- prudenz knüpft. Die Sage hat dieſe Thatſache nur in ihrer Weiſe ausgeſchmückt, indem ſie, wie ſie es ſo gern thut, als Werk der Abſicht hinſtellt, was ein unbeabſichtigtes und unver- meidliches Reſultat der Verhältniſſe iſt. In jener Sage beſitzen wir alſo einen Bericht über einen der wichtigſten Wendepunkte in der Geſchichte des römiſchen Rechts, den Uebergang von der naiven Auffaſſung des Rechts zur Reflexion d. h. zur Jurispru- denz, und zwar beſteht das Intereſſante und Beachtenswerthe dieſes Berichts in zweierlei. Zuerſt theilt er uns mit die Zeit, wann dieſer Wendepunkt eingetreten iſt, nämlich bald nach den XII Tafeln, und ſodann — zwar nicht mit dürren Worten, aber für Jeden, der Sagen zu leſen verſteht, nicht minder deutlich — wie tief der Riß, der damit erfolgte, vom Volk empfunden ſein muß, welch’ bleibenden Eindruck dieſer Umſchwung in der Erin- 532) L. 2 §. 35 de orig. jur. (1. 2). Liv. IX, 46. Cicero pro Murena c. 11. Val. Max. II, 5 §. 2. 533) Puchta Curſus der Inſt. Bd. 1 §. 17. Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 27

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/123>, abgerufen am 24.11.2024.