Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe. Abhängigkeit eines bedeutenden Theils des Volks von einerverhältnißmäßig geringen Zahl von Wucherern und berührte damit das Interesse des Staats selbst in hohem Grade. Befrei- ung der Schuldner von jenem Joch oder Erleichterung der Last wenigstens insoweit, um ihnen die Möglichkeit der Tilgung durch eigne Thätigkeit zu gewähren, konnte daher unter Um- ständen ein Akt der Selbsterhaltung des Staats sein,72) und so haben auch die Römer selbst die Sache angesehen. Nicht also als eine Maßregel, die im Prinzip der Volkssouveränetät schon ihre Rechtfertigung finde, sondern als ein durch die höchste Noth gebotenes Rettungsmittel,73) abgesehen von dieser Voraus- setzung mithin als unverantwortliche Willkühr, als schreiendes Unrecht.74) Die Achtung der Gesetzgebung vor bestehenden 72) Ich verweise namentlich auf die ausführlichere Rechtfertigung dieser Maßregeln bei Niebuhr röm. Gesch. B. 2 S. 23 fl. (bei Gelegenheit der licinischen Rogationen). 73) Cicero de republ. II. c. 34: .... quum plebes publica calamitate impendiis debilitata deficeret, salutis omnium causa aliqua sub- levatio et medicina quaesita est. Sueton Jul. Caesar c. 42. 74) Cicero de offic. II. c. 22: qui autem populares se esse vo-
lunt, ob eamque causam aut agrariam rem tentant, ut possessores suis sedibus pellantur aut pecunias creditas debitoribus condonandas putant, ii labefactant fundamenta reipublicae ...... deinde ae- quitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim est proprium civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei cujusque custodia. Atque in hac pernicie reipublicae etc. Ci- cero hatte in den 10 Jahren, die zwischen der einen und andern Aeußerung lagen, schwerlich seine Ansicht verändert, wie Niebuhr annimmt (röm. Gesch. B. 1 S. 640 Note 1347), sondern die eine bezieht sich auf den weisen Ge- brauch, die andere auf den Mißbrauch des Mittels. -- Wie Schmidt S. 153 Anm. 1 darin, "daß das römische Recht die Aufhebung der Civilrechte durch einen Akt der Staatsgewalt als einen durch vis major oder casus herbeige- führten Rechtsverlust betrachte," eine Consequenz der von ihm dem römischen Recht supponirten Auffassung erblicken kann, ist mir völlig unbegreiflich. Ich sollte sagen, daß das Gegentheil nicht hätte klarer ausgedrückt sein können, denn vis major, casus bildet ja den Gegensatz zum Recht, jene Aufhebung wird dadurch also als eine gewaltsame bezeichnet. Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Abhängigkeit eines bedeutenden Theils des Volks von einerverhältnißmäßig geringen Zahl von Wucherern und berührte damit das Intereſſe des Staats ſelbſt in hohem Grade. Befrei- ung der Schuldner von jenem Joch oder Erleichterung der Laſt wenigſtens inſoweit, um ihnen die Möglichkeit der Tilgung durch eigne Thätigkeit zu gewähren, konnte daher unter Um- ſtänden ein Akt der Selbſterhaltung des Staats ſein,72) und ſo haben auch die Römer ſelbſt die Sache angeſehen. Nicht alſo als eine Maßregel, die im Prinzip der Volksſouveränetät ſchon ihre Rechtfertigung finde, ſondern als ein durch die höchſte Noth gebotenes Rettungsmittel,73) abgeſehen von dieſer Voraus- ſetzung mithin als unverantwortliche Willkühr, als ſchreiendes Unrecht.74) Die Achtung der Geſetzgebung vor beſtehenden 72) Ich verweiſe namentlich auf die ausführlichere Rechtfertigung dieſer Maßregeln bei Niebuhr röm. Geſch. B. 2 S. 23 fl. (bei Gelegenheit der liciniſchen Rogationen). 73) Cicero de republ. II. c. 34: .... quum plebes publica calamitate impendiis debilitata deficeret, salutis omnium causa aliqua sub- levatio et medicina quaesita est. Sueton Jul. Caesar c. 42. 74) Cicero de offic. II. c. 22: qui autem populares se esse vo-
lunt, ob eamque causam aut agrariam rem tentant, ut possessores suis sedibus pellantur aut pecunias creditas debitoribus condonandas putant, ii labefactant fundamenta reipublicae ...... deinde ae- quitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim est proprium civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei cujusque custodia. Atque in hac pernicie reipublicae etc. Ci- cero hatte in den 10 Jahren, die zwiſchen der einen und andern Aeußerung lagen, ſchwerlich ſeine Anſicht verändert, wie Niebuhr annimmt (röm. Geſch. B. 1 S. 640 Note 1347), ſondern die eine bezieht ſich auf den weiſen Ge- brauch, die andere auf den Mißbrauch des Mittels. — Wie Schmidt S. 153 Anm. 1 darin, „daß das römiſche Recht die Aufhebung der Civilrechte durch einen Akt der Staatsgewalt als einen durch vis major oder casus herbeige- führten Rechtsverluſt betrachte,“ eine Conſequenz der von ihm dem römiſchen Recht ſupponirten Auffaſſung erblicken kann, iſt mir völlig unbegreiflich. Ich ſollte ſagen, daß das Gegentheil nicht hätte klarer ausgedrückt ſein können, denn vis major, casus bildet ja den Gegenſatz zum Recht, jene Aufhebung wird dadurch alſo als eine gewaltſame bezeichnet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0092" n="78"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/> Abhängigkeit eines bedeutenden Theils des Volks von einer<lb/> verhältnißmäßig geringen Zahl von Wucherern und berührte<lb/> damit das Intereſſe des Staats ſelbſt in hohem Grade. Befrei-<lb/> ung der Schuldner von jenem Joch oder Erleichterung der Laſt<lb/> wenigſtens inſoweit, um ihnen die Möglichkeit der Tilgung<lb/> durch eigne Thätigkeit zu gewähren, konnte daher unter Um-<lb/> ſtänden ein Akt der Selbſterhaltung des Staats ſein,<note place="foot" n="72)">Ich verweiſe namentlich auf die ausführlichere Rechtfertigung dieſer<lb/> Maßregeln bei Niebuhr röm. Geſch. B. 2 S. 23 fl. (bei Gelegenheit der<lb/> liciniſchen Rogationen).</note> und ſo<lb/> haben auch die Römer ſelbſt die Sache angeſehen. Nicht alſo<lb/> als eine Maßregel, die im Prinzip der Volksſouveränetät ſchon<lb/> ihre Rechtfertigung finde, ſondern als ein durch die höchſte Noth<lb/> gebotenes Rettungsmittel,<note place="foot" n="73)"><hi rendition="#aq">Cicero de republ. II. c. 34: .... quum plebes publica calamitate<lb/> impendiis debilitata deficeret, <hi rendition="#g">salutis omnium causa</hi> aliqua sub-<lb/> levatio et medicina quaesita est. Sueton Jul. Caesar c. 42.</hi></note> abgeſehen von dieſer Voraus-<lb/> ſetzung mithin als unverantwortliche Willkühr, als ſchreiendes<lb/> Unrecht.<note place="foot" n="74)"><hi rendition="#aq">Cicero de offic. II. c. 22: qui autem <hi rendition="#g">populares</hi> se esse vo-<lb/> lunt, ob eamque causam aut agrariam rem tentant, ut possessores suis<lb/> sedibus pellantur aut pecunias creditas debitoribus condonandas putant,<lb/> ii <hi rendition="#g">labefactant fundamenta reipublicae</hi> ...... deinde ae-<lb/> quitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim<lb/> est proprium civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei<lb/> cujusque custodia. Atque in hac <hi rendition="#g">pernicie reipublicae</hi> etc.</hi> Ci-<lb/> cero hatte in den 10 Jahren, die zwiſchen der einen und andern Aeußerung<lb/> lagen, ſchwerlich ſeine Anſicht verändert, wie Niebuhr annimmt (röm. Geſch.<lb/> B. 1 S. 640 Note 1347), ſondern die eine bezieht ſich auf den weiſen Ge-<lb/> brauch, die andere auf den Mißbrauch des Mittels. — Wie Schmidt S. 153<lb/> Anm. 1 darin, „daß das römiſche Recht die Aufhebung der Civilrechte durch<lb/> einen Akt der Staatsgewalt als einen durch <hi rendition="#aq">vis major</hi> oder <hi rendition="#aq">casus</hi> herbeige-<lb/> führten Rechtsverluſt betrachte,“ eine Conſequenz der von ihm dem römiſchen<lb/> Recht ſupponirten Auffaſſung erblicken kann, iſt mir völlig unbegreiflich. Ich<lb/> ſollte ſagen, daß das Gegentheil nicht hätte klarer ausgedrückt ſein können,<lb/> denn <hi rendition="#aq">vis major, casus</hi> bildet ja den Gegenſatz zum Recht, jene Aufhebung<lb/> wird dadurch alſo als eine gewaltſame bezeichnet.</note> Die Achtung der Geſetzgebung vor beſtehenden<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0092]
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Abhängigkeit eines bedeutenden Theils des Volks von einer
verhältnißmäßig geringen Zahl von Wucherern und berührte
damit das Intereſſe des Staats ſelbſt in hohem Grade. Befrei-
ung der Schuldner von jenem Joch oder Erleichterung der Laſt
wenigſtens inſoweit, um ihnen die Möglichkeit der Tilgung
durch eigne Thätigkeit zu gewähren, konnte daher unter Um-
ſtänden ein Akt der Selbſterhaltung des Staats ſein, 72) und ſo
haben auch die Römer ſelbſt die Sache angeſehen. Nicht alſo
als eine Maßregel, die im Prinzip der Volksſouveränetät ſchon
ihre Rechtfertigung finde, ſondern als ein durch die höchſte Noth
gebotenes Rettungsmittel, 73) abgeſehen von dieſer Voraus-
ſetzung mithin als unverantwortliche Willkühr, als ſchreiendes
Unrecht. 74) Die Achtung der Geſetzgebung vor beſtehenden
72) Ich verweiſe namentlich auf die ausführlichere Rechtfertigung dieſer
Maßregeln bei Niebuhr röm. Geſch. B. 2 S. 23 fl. (bei Gelegenheit der
liciniſchen Rogationen).
73) Cicero de republ. II. c. 34: .... quum plebes publica calamitate
impendiis debilitata deficeret, salutis omnium causa aliqua sub-
levatio et medicina quaesita est. Sueton Jul. Caesar c. 42.
74) Cicero de offic. II. c. 22: qui autem populares se esse vo-
lunt, ob eamque causam aut agrariam rem tentant, ut possessores suis
sedibus pellantur aut pecunias creditas debitoribus condonandas putant,
ii labefactant fundamenta reipublicae ...... deinde ae-
quitatem, quae tollitur omnis, si habere suum cuique non licet. Id enim
est proprium civitatis atque urbis, ut sit libera et non sollicita suae rei
cujusque custodia. Atque in hac pernicie reipublicae etc. Ci-
cero hatte in den 10 Jahren, die zwiſchen der einen und andern Aeußerung
lagen, ſchwerlich ſeine Anſicht verändert, wie Niebuhr annimmt (röm. Geſch.
B. 1 S. 640 Note 1347), ſondern die eine bezieht ſich auf den weiſen Ge-
brauch, die andere auf den Mißbrauch des Mittels. — Wie Schmidt S. 153
Anm. 1 darin, „daß das römiſche Recht die Aufhebung der Civilrechte durch
einen Akt der Staatsgewalt als einen durch vis major oder casus herbeige-
führten Rechtsverluſt betrachte,“ eine Conſequenz der von ihm dem römiſchen
Recht ſupponirten Auffaſſung erblicken kann, iſt mir völlig unbegreiflich. Ich
ſollte ſagen, daß das Gegentheil nicht hätte klarer ausgedrückt ſein können,
denn vis major, casus bildet ja den Gegenſatz zum Recht, jene Aufhebung
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