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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
sollte und müßte; in der aus seiner Rede pro Balbo (Anm. 46)
mitgetheilten Stelle wird vielmehr der Grundsatz der Unverletz-
lichkeit des subjektiven Rechts als einer der Hauptpfeiler der
römischen Freiheit bezeichnet (haec sunt enim fundamenta fir-
missima nostrae libertatis, sui quemque juris et retinendi et
dimittendi esse dominum
) und das Alter desselben dem des rö-
mischen Namens gleichgestellt (o jura praeclara atque divinitus
jam inde a principio Romani nominis a majoribus nostris com-
parata
). Auch die übrigen dort mitgetheilten Aeußerungen Ci-
cero's zeigen, daß er an eine allgemein verbreitete Rechtsansicht
appellirt.

Eingriffe der gesetzgebenden Gewalt in die Rechte des Ein-
zelnen hatten die Zwölf Tafeln ausdrücklich verboten,71) allein
mehr als einmal mußte sich doch der römische Staat dazu ver-
stehen, durch novae tabulae den unter seiner Schuldenlast erlie-
genden ärmern Theil des Volks wieder aufzurichten. Jene novae
tabulae
bezeichnen bekanntlich einen Eingriff der gesetzgebenden
Gewalt in die bestehenden Schuldverhältnisse, sei es Erlaß der
rückständigen Zinsen oder Kürzung des Kapitals namentlich
vermittelst vorgeschriebener Anrechnung der gezahlten Zinsen
aufs Kapital u. s. w. Der hohe Zinsfuß des Alterthums in
Verbindung mit Hemmnissen der Erwerbfähigkeit, wie sie uns
in der Ausdehnung unbekannt sind (namentlich den häufigen
und für den Einzelnen kostspieligen Kriegen), machte ein so la-
winenartiges Anschwellen der Schulden möglich, daß die Schuld-
ner unter der Last erlagen und an eine endliche Abtragung der
Schulden nicht denken konnten. Dieser Zustand bedeutete aber,
wenn er, was ja gewöhnlich, in großer Ausdehnung bestand,
die völligste, nicht bloß privatrechtliche, sondern auch politische

71) Die bekannte Stelle der XII Tafeln über die privilegia. Cicero de
leg. III. 19: leges praeclarissimae de XII tabulis translatae duae, qua-
rum altera privilegia tollit .... in privos homines leges ferri noluerunt
i. e. enim privilegium; quo quid est injustius? quum legis haec vis sit,
scitum est jussum in omnes? pro Sextio c. 30.

I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
ſollte und müßte; in der aus ſeiner Rede pro Balbo (Anm. 46)
mitgetheilten Stelle wird vielmehr der Grundſatz der Unverletz-
lichkeit des ſubjektiven Rechts als einer der Hauptpfeiler der
römiſchen Freiheit bezeichnet (haec sunt enim fundamenta fir-
missima nostrae libertatis, sui quemque juris et retinendi et
dimittendi esse dominum
) und das Alter deſſelben dem des rö-
miſchen Namens gleichgeſtellt (o jura praeclara atque divinitus
jam inde a principio Romani nominis a majoribus nostris com-
parata
). Auch die übrigen dort mitgetheilten Aeußerungen Ci-
cero’s zeigen, daß er an eine allgemein verbreitete Rechtsanſicht
appellirt.

Eingriffe der geſetzgebenden Gewalt in die Rechte des Ein-
zelnen hatten die Zwölf Tafeln ausdrücklich verboten,71) allein
mehr als einmal mußte ſich doch der römiſche Staat dazu ver-
ſtehen, durch novae tabulae den unter ſeiner Schuldenlaſt erlie-
genden ärmern Theil des Volks wieder aufzurichten. Jene novae
tabulae
bezeichnen bekanntlich einen Eingriff der geſetzgebenden
Gewalt in die beſtehenden Schuldverhältniſſe, ſei es Erlaß der
rückſtändigen Zinſen oder Kürzung des Kapitals namentlich
vermittelſt vorgeſchriebener Anrechnung der gezahlten Zinſen
aufs Kapital u. ſ. w. Der hohe Zinsfuß des Alterthums in
Verbindung mit Hemmniſſen der Erwerbfähigkeit, wie ſie uns
in der Ausdehnung unbekannt ſind (namentlich den häufigen
und für den Einzelnen koſtſpieligen Kriegen), machte ein ſo la-
winenartiges Anſchwellen der Schulden möglich, daß die Schuld-
ner unter der Laſt erlagen und an eine endliche Abtragung der
Schulden nicht denken konnten. Dieſer Zuſtand bedeutete aber,
wenn er, was ja gewöhnlich, in großer Ausdehnung beſtand,
die völligſte, nicht bloß privatrechtliche, ſondern auch politiſche

71) Die bekannte Stelle der XII Tafeln über die privilegia. Cicero de
leg. III. 19: leges praeclarissimae de XII tabulis translatae duae, qua-
rum altera privilegia tollit .... in privos homines leges ferri noluerunt
i. e. enim privilegium; quo quid est injustius? quum legis haec vis sit,
scitum est jussum in omnes? pro Sextio c. 30.
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[77/0091] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28. ſollte und müßte; in der aus ſeiner Rede pro Balbo (Anm. 46) mitgetheilten Stelle wird vielmehr der Grundſatz der Unverletz- lichkeit des ſubjektiven Rechts als einer der Hauptpfeiler der römiſchen Freiheit bezeichnet (haec sunt enim fundamenta fir- missima nostrae libertatis, sui quemque juris et retinendi et dimittendi esse dominum) und das Alter deſſelben dem des rö- miſchen Namens gleichgeſtellt (o jura praeclara atque divinitus jam inde a principio Romani nominis a majoribus nostris com- parata). Auch die übrigen dort mitgetheilten Aeußerungen Ci- cero’s zeigen, daß er an eine allgemein verbreitete Rechtsanſicht appellirt. Eingriffe der geſetzgebenden Gewalt in die Rechte des Ein- zelnen hatten die Zwölf Tafeln ausdrücklich verboten, 71) allein mehr als einmal mußte ſich doch der römiſche Staat dazu ver- ſtehen, durch novae tabulae den unter ſeiner Schuldenlaſt erlie- genden ärmern Theil des Volks wieder aufzurichten. Jene novae tabulae bezeichnen bekanntlich einen Eingriff der geſetzgebenden Gewalt in die beſtehenden Schuldverhältniſſe, ſei es Erlaß der rückſtändigen Zinſen oder Kürzung des Kapitals namentlich vermittelſt vorgeſchriebener Anrechnung der gezahlten Zinſen aufs Kapital u. ſ. w. Der hohe Zinsfuß des Alterthums in Verbindung mit Hemmniſſen der Erwerbfähigkeit, wie ſie uns in der Ausdehnung unbekannt ſind (namentlich den häufigen und für den Einzelnen koſtſpieligen Kriegen), machte ein ſo la- winenartiges Anſchwellen der Schulden möglich, daß die Schuld- ner unter der Laſt erlagen und an eine endliche Abtragung der Schulden nicht denken konnten. Dieſer Zuſtand bedeutete aber, wenn er, was ja gewöhnlich, in großer Ausdehnung beſtand, die völligſte, nicht bloß privatrechtliche, ſondern auch politiſche 71) Die bekannte Stelle der XII Tafeln über die privilegia. Cicero de leg. III. 19: leges praeclarissimae de XII tabulis translatae duae, qua- rum altera privilegia tollit .... in privos homines leges ferri noluerunt i. e. enim privilegium; quo quid est injustius? quum legis haec vis sit, scitum est jussum in omnes? pro Sextio c. 30.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/91>, abgerufen am 23.11.2024.