Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28. hältnisses ist die einzige Gewalt, die das Recht zu fürchten hat,die des Staates selbst; der Anspruch des Rechts auf ungehemmte Verwirklichung reducirt sich mithin darauf, daß die Staatsge- walt nicht in den Verwirklichungsprozeß des Rechts eingreife, ihm kein Hinderniß in den Weg lege. Die Garantie für die Erfüllung dieses Anspruches liegt im Recht selbst, in der mora- lischen Kraft, die dasselbe über das Gemüth des Volks ausübt; je nach dem Maße dieser moralischen Gewalt richtet sich das Maß der äußeren Sicherheit und Unabhängigkeit, deren sich das Recht zu erfreuen hat. Es zeigt uns nun aber die Geschichte aller Völker Beispiele I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28. hältniſſes iſt die einzige Gewalt, die das Recht zu fürchten hat,die des Staates ſelbſt; der Anſpruch des Rechts auf ungehemmte Verwirklichung reducirt ſich mithin darauf, daß die Staatsge- walt nicht in den Verwirklichungsprozeß des Rechts eingreife, ihm kein Hinderniß in den Weg lege. Die Garantie für die Erfüllung dieſes Anſpruches liegt im Recht ſelbſt, in der mora- liſchen Kraft, die daſſelbe über das Gemüth des Volks ausübt; je nach dem Maße dieſer moraliſchen Gewalt richtet ſich das Maß der äußeren Sicherheit und Unabhängigkeit, deren ſich das Recht zu erfreuen hat. Es zeigt uns nun aber die Geſchichte aller Völker Beiſpiele <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0089" n="75"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.</fw><lb/> hältniſſes iſt die einzige Gewalt, die das Recht zu fürchten hat,<lb/> die des Staates ſelbſt; der Anſpruch des Rechts auf ungehemmte<lb/> Verwirklichung reducirt ſich mithin darauf, daß die Staatsge-<lb/> walt nicht in den Verwirklichungsprozeß des Rechts eingreife,<lb/> ihm kein Hinderniß in den Weg lege. Die Garantie für die<lb/> Erfüllung dieſes Anſpruches liegt im Recht ſelbſt, in der mora-<lb/> liſchen Kraft, die daſſelbe über das Gemüth des Volks ausübt;<lb/> je nach dem Maße dieſer moraliſchen Gewalt richtet ſich das<lb/> Maß der äußeren Sicherheit und Unabhängigkeit, deren ſich das<lb/> Recht zu erfreuen hat.</p><lb/> <p>Es zeigt uns nun aber die Geſchichte aller Völker Beiſpiele<lb/> von Eingriffen der Staatsgewalt in die Rechtsordnung, und<lb/> dieſe Erſcheinung kann nicht einfach von uns als ein Verſtoß<lb/> gegen die Selbſtändigkeit des Rechts abgethan werden, ſondern<lb/> ſie kann und muß uns zu der Frage führen: ob denn die Selb-<lb/> ſtändigkeit des Rechts das abſolut Höchſte iſt, ob nicht vielmehr<lb/> das Recht dieſe ſeine Prätenſion zu ermäßigen habe. Die Ant-<lb/> wort darauf kann nicht zweifelhaft ſein. Es gibt Lagen im Le-<lb/> ben der Völker, wo eine Verletzung des Rechts als Akt der na-<lb/> tionalen Selbſterhaltung erſcheint, Fälle, wo Eingriffe der<lb/> Staatsgewalt in die Rechtsordnung zur hiſtoriſchen Nothwen-<lb/> digkeit geworden ſind, wo es gilt, wie beim Scheitern, das Ge-<lb/> ringere über Bord zu werfen, um das Werthvollere zu retten, —<lb/> ich möchte ſie die tragiſchen Momente im Leben des Rechts nen-<lb/> nen. Auf einen ſolchen Nothſtand ſtützen die Staatsſtreiche, Re-<lb/> volutionen, die Aufhebung der <hi rendition="#aq">jura quaesita</hi> durch die Geſetz-<lb/> gebung ihre Berechtigung. Wehe aber einer Zeit, die in ſolchen<lb/> Lagen nicht bis zum äußerſten am Recht feſthält, die Rolle der<lb/> Vorſehung, ſo zu ſagen, ohne eine Aufforderung derſelben ſich<lb/> aneignet. Nur die Ueberzeugung der unüberwindlichen hiſtoriſchen<lb/> Nothwendigkeit kann das ſittliche Gefühl mit der am Recht ver-<lb/> übten Gewaltthat ausſöhnen; ohne ſie bedeutet jede Verletzung<lb/> der Rechtsordnung einen frevelhaften Schlag auf den Baum<lb/> des Rechts, der daſſelbe in ſeinem innerſten Mark, d. h. den<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0089]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 4. Verwirklichung des Rechts. §. 28.
hältniſſes iſt die einzige Gewalt, die das Recht zu fürchten hat,
die des Staates ſelbſt; der Anſpruch des Rechts auf ungehemmte
Verwirklichung reducirt ſich mithin darauf, daß die Staatsge-
walt nicht in den Verwirklichungsprozeß des Rechts eingreife,
ihm kein Hinderniß in den Weg lege. Die Garantie für die
Erfüllung dieſes Anſpruches liegt im Recht ſelbſt, in der mora-
liſchen Kraft, die daſſelbe über das Gemüth des Volks ausübt;
je nach dem Maße dieſer moraliſchen Gewalt richtet ſich das
Maß der äußeren Sicherheit und Unabhängigkeit, deren ſich das
Recht zu erfreuen hat.
Es zeigt uns nun aber die Geſchichte aller Völker Beiſpiele
von Eingriffen der Staatsgewalt in die Rechtsordnung, und
dieſe Erſcheinung kann nicht einfach von uns als ein Verſtoß
gegen die Selbſtändigkeit des Rechts abgethan werden, ſondern
ſie kann und muß uns zu der Frage führen: ob denn die Selb-
ſtändigkeit des Rechts das abſolut Höchſte iſt, ob nicht vielmehr
das Recht dieſe ſeine Prätenſion zu ermäßigen habe. Die Ant-
wort darauf kann nicht zweifelhaft ſein. Es gibt Lagen im Le-
ben der Völker, wo eine Verletzung des Rechts als Akt der na-
tionalen Selbſterhaltung erſcheint, Fälle, wo Eingriffe der
Staatsgewalt in die Rechtsordnung zur hiſtoriſchen Nothwen-
digkeit geworden ſind, wo es gilt, wie beim Scheitern, das Ge-
ringere über Bord zu werfen, um das Werthvollere zu retten, —
ich möchte ſie die tragiſchen Momente im Leben des Rechts nen-
nen. Auf einen ſolchen Nothſtand ſtützen die Staatsſtreiche, Re-
volutionen, die Aufhebung der jura quaesita durch die Geſetz-
gebung ihre Berechtigung. Wehe aber einer Zeit, die in ſolchen
Lagen nicht bis zum äußerſten am Recht feſthält, die Rolle der
Vorſehung, ſo zu ſagen, ohne eine Aufforderung derſelben ſich
aneignet. Nur die Ueberzeugung der unüberwindlichen hiſtoriſchen
Nothwendigkeit kann das ſittliche Gefühl mit der am Recht ver-
übten Gewaltthat ausſöhnen; ohne ſie bedeutet jede Verletzung
der Rechtsordnung einen frevelhaften Schlag auf den Baum
des Rechts, der daſſelbe in ſeinem innerſten Mark, d. h. den
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