Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.I. Der Selbständigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. punkt, den das Recht zu verfolgen habe, stets lebendig. DerJurist, der die Rechtsgrundsätze entwickelte und zu ihren Conse- quenzen verarbeitete, der Richter, der sie anzuwenden hatte, weder sie kamen in Versuchung, den moralischen Gesichtspunkt hineinzumischen, noch auch das Volk in Versuchung, ihnen eine Rolle zuzumuthen, die durch den Censor hinlänglich vertreten war. Ich glaube, es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behaup- tet: daß der Censor wesentlich dazu beitrug, Stellung und Auf- gabe des römischen Richters ihm selbst und dem Volk verständ- lich zu machen; der Unterschied der censorischen und der richter- lichen Urtheilsfällung und damit die Rechtfertigung der letzte- ren war jedem Römer geläufig.42) Wie ungleich schwieriger ist in dieser Beziehung die Stellung des heutigen Richters; nicht bloß, daß er selbst leichter in Gefahr kömmt, dem moralischen Gefühl einen Einfluß auf die Entscheidung zu verstatten, son- dern die strenge Festhaltung des rechtlichen Gesichtspunktes ist gerade das, was man ihm heutzutage so oft zum Vorwurf macht. Eine Einrichtung der spätern Zeit, die mit der Censur eine 42) S. z. B. in dem Rechtsfall bei Gellius XIV. 2 die Argumentation
der Beklagten: quod de utriusque autem vita atque factis diceretur, frustra id fieri atque dici; rem enim de petenda pecunia apud judicem privatum agi, non apud censores de moribus. I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. punkt, den das Recht zu verfolgen habe, ſtets lebendig. DerJuriſt, der die Rechtsgrundſätze entwickelte und zu ihren Conſe- quenzen verarbeitete, der Richter, der ſie anzuwenden hatte, weder ſie kamen in Verſuchung, den moraliſchen Geſichtspunkt hineinzumiſchen, noch auch das Volk in Verſuchung, ihnen eine Rolle zuzumuthen, die durch den Cenſor hinlänglich vertreten war. Ich glaube, es iſt nicht zu viel geſagt, wenn man behaup- tet: daß der Cenſor weſentlich dazu beitrug, Stellung und Auf- gabe des römiſchen Richters ihm ſelbſt und dem Volk verſtänd- lich zu machen; der Unterſchied der cenſoriſchen und der richter- lichen Urtheilsfällung und damit die Rechtfertigung der letzte- ren war jedem Römer geläufig.42) Wie ungleich ſchwieriger iſt in dieſer Beziehung die Stellung des heutigen Richters; nicht bloß, daß er ſelbſt leichter in Gefahr kömmt, dem moraliſchen Gefühl einen Einfluß auf die Entſcheidung zu verſtatten, ſon- dern die ſtrenge Feſthaltung des rechtlichen Geſichtspunktes iſt gerade das, was man ihm heutzutage ſo oft zum Vorwurf macht. Eine Einrichtung der ſpätern Zeit, die mit der Cenſur eine 42) S. z. B. in dem Rechtsfall bei Gellius XIV. 2 die Argumentation
der Beklagten: quod de utriusque autem vita atque factis diceretur, frustra id fieri atque dici; rem enim de petenda pecunia apud judicem privatum agi, non apud censores de moribus. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0069" n="55"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.</fw><lb/> punkt, den das Recht zu verfolgen habe, ſtets lebendig. Der<lb/> Juriſt, der die Rechtsgrundſätze entwickelte und zu ihren Conſe-<lb/> quenzen verarbeitete, der Richter, der ſie anzuwenden hatte,<lb/> weder <hi rendition="#g">ſie</hi> kamen in Verſuchung, den moraliſchen Geſichtspunkt<lb/> hineinzumiſchen, noch auch das Volk in Verſuchung, ihnen eine<lb/> Rolle zuzumuthen, die durch den Cenſor hinlänglich vertreten<lb/> war. Ich glaube, es iſt nicht zu viel geſagt, wenn man behaup-<lb/> tet: daß der Cenſor weſentlich dazu beitrug, Stellung und Auf-<lb/> gabe des römiſchen Richters ihm ſelbſt und dem Volk verſtänd-<lb/> lich zu machen; der Unterſchied der cenſoriſchen und der richter-<lb/> lichen Urtheilsfällung und damit die Rechtfertigung der letzte-<lb/> ren war jedem Römer geläufig.<note place="foot" n="42)">S. z. B. in dem Rechtsfall bei <hi rendition="#aq">Gellius XIV.</hi> 2 die Argumentation<lb/> der Beklagten: <hi rendition="#aq">quod de utriusque autem vita atque factis diceretur,<lb/> frustra id fieri atque dici; rem enim de petenda pecunia apud judicem<lb/> privatum agi, non apud censores de moribus</hi>.</note> Wie ungleich ſchwieriger iſt<lb/> in dieſer Beziehung die Stellung des heutigen Richters; nicht<lb/> bloß, daß er ſelbſt leichter in Gefahr kömmt, dem moraliſchen<lb/> Gefühl einen Einfluß auf die Entſcheidung zu verſtatten, ſon-<lb/> dern die ſtrenge Feſthaltung des rechtlichen Geſichtspunktes iſt<lb/> gerade das, was man ihm heutzutage ſo oft zum Vorwurf<lb/> macht.</p><lb/> <p>Eine Einrichtung der ſpätern Zeit, die mit der Cenſur eine<lb/> gewiſſe Aehnlichkeit hatte, waren die geiſtlichen Gerichte des<lb/> Mittelalters. Wie neben dem Prätor der Cenſor, ſo ſtanden ſie<lb/> neben den weltlichen Gerichten; beide verfolgten ſelbſtändig und<lb/> unabhängig ihren eigenen Weg und ihren eigenthümlichen Ge-<lb/> ſichtspunkt, den der ſittlichen Reinheit der Gemeinſchaft, nur<lb/> beim Cenſor mit mehr politiſcher, bei den geiſtlichen Gerichten<lb/> mit mehr religiöſer Färbung. Beide hatten als äußerſtes Straf-<lb/> mittel das der Ausſchließung aus der (politiſchen, religiöſen)<lb/> Gemeinſchaft. Beide vermittelten das abſtracte Recht mit den<lb/> Anforderungen der Sitte und des ſittlichen Gefühls. Auch darin<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [55/0069]
I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
punkt, den das Recht zu verfolgen habe, ſtets lebendig. Der
Juriſt, der die Rechtsgrundſätze entwickelte und zu ihren Conſe-
quenzen verarbeitete, der Richter, der ſie anzuwenden hatte,
weder ſie kamen in Verſuchung, den moraliſchen Geſichtspunkt
hineinzumiſchen, noch auch das Volk in Verſuchung, ihnen eine
Rolle zuzumuthen, die durch den Cenſor hinlänglich vertreten
war. Ich glaube, es iſt nicht zu viel geſagt, wenn man behaup-
tet: daß der Cenſor weſentlich dazu beitrug, Stellung und Auf-
gabe des römiſchen Richters ihm ſelbſt und dem Volk verſtänd-
lich zu machen; der Unterſchied der cenſoriſchen und der richter-
lichen Urtheilsfällung und damit die Rechtfertigung der letzte-
ren war jedem Römer geläufig. 42) Wie ungleich ſchwieriger iſt
in dieſer Beziehung die Stellung des heutigen Richters; nicht
bloß, daß er ſelbſt leichter in Gefahr kömmt, dem moraliſchen
Gefühl einen Einfluß auf die Entſcheidung zu verſtatten, ſon-
dern die ſtrenge Feſthaltung des rechtlichen Geſichtspunktes iſt
gerade das, was man ihm heutzutage ſo oft zum Vorwurf
macht.
Eine Einrichtung der ſpätern Zeit, die mit der Cenſur eine
gewiſſe Aehnlichkeit hatte, waren die geiſtlichen Gerichte des
Mittelalters. Wie neben dem Prätor der Cenſor, ſo ſtanden ſie
neben den weltlichen Gerichten; beide verfolgten ſelbſtändig und
unabhängig ihren eigenen Weg und ihren eigenthümlichen Ge-
ſichtspunkt, den der ſittlichen Reinheit der Gemeinſchaft, nur
beim Cenſor mit mehr politiſcher, bei den geiſtlichen Gerichten
mit mehr religiöſer Färbung. Beide hatten als äußerſtes Straf-
mittel das der Ausſchließung aus der (politiſchen, religiöſen)
Gemeinſchaft. Beide vermittelten das abſtracte Recht mit den
Anforderungen der Sitte und des ſittlichen Gefühls. Auch darin
42) S. z. B. in dem Rechtsfall bei Gellius XIV. 2 die Argumentation
der Beklagten: quod de utriusque autem vita atque factis diceretur,
frustra id fieri atque dici; rem enim de petenda pecunia apud judicem
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